Tausende Eltern weigern sich, ihre Kinder in die Schule zu schicken
Madrid – Der Schulanfang wird für eine Mehrheit der etwa acht Millionen Schülerinnen und Schüler in Spanien in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht einzigartig und ungewöhnlich sein. Für einige gilt dies jedoch ganz besonders, sie werden nämlich zu Hause bleiben. Nach derzeitigem Stand sieht es so aus, dass Tausende Schülerinnen und Schüler nicht zum Unterricht erscheinen werden. Wie viele genau, bleibt abzuwarten. Grund dafür ist eine Bewegung, der sich Elternvereinigungen, sogenannte AMPAS, aus ganz Spanien angeschlossen haben. Sie weigern sich, aufgrund des täglich steigenden Ansteckungsrisikos durch Covid-19, ihre Kinder ab September wieder in die Schule zu schicken. Zahlreiche Familien gehen gegen die bisherigen Sicherheitspläne der Regionalregierungen für den Schulbeginn auf die Barrikaden und fordern mehr Investitionen, um die Anzahl der Schüler pro Klasse zu verringern. Die Beschwerden, Ängste und Bedenken der Eltern sind in diesem Sommer über das Internet viral gegangen.
„In welchem Unternehmen ist es erlaubt, dass 30 Personen auf lediglich 35 Quadratmetern zusammenkommen? Innerhalb weniger Tage wurde es geschafft, ein Feldkrankenhaus aus dem Boden zu stampfen, aber monatelang war es nicht möglich, mehr Raum für die Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Und die sogenannten grupos burbuja (Schülergruppen, die nur unter sich agieren, nicht aber in Kontakt mit anderen Klassen kommen) sind doch reine Fiktion, weil die Kinder spätestens im Schulbus doch auch wieder auf engstem Raum zusammensitzen.“ So vehement fasst eine der Urheberinnen der Bewegung, eine Lehrerin und Mutter, die anonym bleiben will, die Beschwerden der besorgten Eltern zusammen. Über Twitter hat sie unter dem Pseudonym Maestra enfurecida („Wütende Lehrerin“) die Auflehnung der Eltern losgetreten. Inzwischen richtete sie über Change.org den Appell an das Bildungsministerium und die Regionalregierungen, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, um weitere Lehrer einzustellen und eine Lösung für die beengten Räumlichkeiten zu finden und so einen „sicheren Schulbeginn“ garantieren zu können. Ihrem Antrag haben sich inzwischen mehr als 155.000 Eltern mit ihrer Unterschrift angeschlossen.
Einer der Betroffenen, Cristian Espantoso, dessen Sohn auf eine Schule in Bilbao geht, erklärte: „Es ist gut möglich, dass mein Sohn das gesamte Schuljahr über nicht zum Unterricht gehen wird. Wir besprechen uns diesbezüglich noch. Die Familien brauchen jetzt Hilfe und Verständnis und nicht Drohung, dass die Sozialdienste wegen Nichteinhaltung der Schulpflicht eingeschaltet werden. Wenn die Regierungen nicht jetzt die Schülerzahlen pro Klassenzimmer verringern, wann wollen sie es denn dann tun?“
Die Zentralregierung hat den autonomen Regionen einen nicht rückzahlbaren Zuschuss in Höhe von zwei Milliarden Euro für September versprochen, damit weitere Lehrkräfte eingestellt werden können. Allerdings liegen die bisherigen Neueinstellungen weit hinter den 165.000 weiteren Lehrkräften zurück, die nach Angaben der Gewerkschaft CCOO nötig wären, um eine maximale Anzahl von 15 Schülerinnen und Schülern pro Klassenraum gewährleisten zu können. Bislang ist bekannt, dass in der Valencianischen Gemeinschaft 4.300 neue Lehrkräfte eingestellt werden sollen, in Katalonien 5.000, in Andalusien 6.000, aber im Baskenland zum Beispiel nicht eine einzige.
Derzeit liegt die Anzahl der Schüler pro Klassenraum weiterhin bei 25 in der Grundschule und bei 30 in der Mittelstufe, und das wird sich kaum auf die Schnelle ändern. „Jeder, der diese Anzahl an Schülern in einem Klassenraum sieht, dem ist sofort klar, dass das einer regelrechten Zeitbombe gleichkommt“, moniert Maestra enfurecida.
Das Bildungsministerium zeigt bislang wenig Verständnis für die besorgten Eltern und weist auf die in Spanien für Kinder zwischen 6 und 16 Jahren bestehende Schulpflicht hin. „Die Schule ist ein unerlässliches Element, um sozialen Ungleichheiten entgegenzuwirken“, erklärte diesbezüglich ein Sprecher des Ministeriums. „Wir verstehen, dass die Eltern Angst haben, aber wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, appellierte auch Carmen Morillas, die Vorsitzende von Ceapa, des größten Dachverbands von Elternvereinigungen Spaniens. „Die Teilnahme am Unterricht ist unerlässlich, um Chancengleichheit sicherzustellen, wie sich ja auch in der Zeit des Lockdowns deutlich gezeigt hat.“
Losgegangen ist die Bewegung der „unfolgsamen Eltern“ im Juni in Andalusien. Inzwischen haben sich dort 500 Elternvereinigungen der Bewegung angeschlossen. Sie wollen ihre Kinder angesichts der derzeit prekären Sicherheitsmaßnahmen zur Eindämmung des Risikos nicht in die Schule schicken, sondern nur von zu Hause aus am Unterricht teilnehmen lassen. „Wir sind dazu gezwungen, eine Entscheidung für Gesundheit und für Bildung zu treffen“, so die Beschwerde der Eltern.
Obwohl von politischer Seite momentan noch angekündigt wird, dass die Nichteinhaltung der Schulpflicht Konsequenzen haben wird, haben Juristen und Anwälte spanienweit bereits klargestellt, dass eine tatsächliche konsequente verwaltungsrechtliche Verfolgung von Eltern, die ihre Kinder angesichts der derzeitigen Lage nicht in die Schule schicken werden, wohl wenig Aussichten auf Erfolg haben wird.