Winterwanderland
In Teneriffas Hochgebirge ist der Schnee fast überall geschmolzen. Nur aus der Nordflanke des Pico del Teide blinken noch gleißende Firnfelder vom Gipfel herunter ins Tal und geben dem Riesen eine märchenhafte Aura. Ansonsten entdeckt man in der Gruppe der zentralen Vulkane nur noch einige kleine weiße Flecken. Durch häufiges Antauen und erneutes Einfrieren sind sie längst zu Eisplatten geworden. Aber nach Bergfrühling sieht die Landschaft noch nicht aus, obwohl seit Wochen schon wieder die Sonne scheint. Wer auf Teneriffa Frühblüher sehen will, muss in den Mittelgebirgslagen suchen. Dort blühen jetzt zahlreiche Scheinkrokusse, Rosenlauch und immer mehr Gänsedisteln. Im Hochgebirge halten sich die Blütenpflanzen an die Jahreszeit, obwohl in der Sonne schon angenehme 20 – 25 C erreicht werden. Im Schatten und in den Felsspalten, in denen die einheimischen Bergkräuter und Sträucher wurzeln, ist es allerdings noch viel zu kalt. Die Sonne muss noch einiges leisten, bevor die Pflanzenwelt wieder erwacht.
Während des ganzen Jahres sind die Wege im Nationalpark zu schade, um auf ihnen nur von A nach B zu laufen. In der bergsteigerischen Tradition entstand das Leitmotiv „Der Weg ist das Ziel“, als die meisten Alpengipfel schon wenigstens einmal erreicht worden waren. Man suchte neue Varianten und Herausforderungen. Je schwerer die neue Route, desto höher das Ansehen ihrer Erschließer. Diese Zeit ist längst Geschichte. Wir wandern und gehen auf die Berge, wie schon ungezählte Unbekannte vor uns. In einem Nationalpark wie dem hiesigen gibt es die romantisch verklärte und gelegentlich auch aggressiv vertretene Freiheit der Berge und die damit verbundene Suche nach der individuellen Spur sowieso nicht. Hier gilt ganzjährig ein striktes Wegegebot und gibt uns Gelegenheit, das Motto vom Weg als Ziel neuer, anders und vor allem ortsgerecht zu verstehen und umzusetzen. Wenn der Zielpunkt nur der Ort ist, von dem wir wieder zurückkehren, können wir uns vorzugsweise dem zuwenden, was uns entlang des Weges auffällt, sei es nah oder entfernter. Die Zeit, die wir auf diese Weise in der Natur verbringen, wird so nicht kürzer, wohl aber die Entfernungen, die wir planen. Abwechslungsreicher wird es bestimmt.
Heute ist für die Mittelgebirgslagen sanfter Regen auf den Inseln angesagt. Aber wer läuft schon gern in einer triefenden Wolke, wenn wenige Hundert Höhenmeter darüber wolkenloser Himmel lockt. Wir haben uns einen mittellangen Rundweg vorgenommen, den wir beim Parador-Hotel beginnen könnten. Aber dort ist die Parkplatzsituation manchmal ungünstig, so entscheiden wir uns, das Auto auf einem kleinen, namenlosen Parkplatz unterhalb der Talstation der Teide-Seilbahn abzustellen. Der Weg führt zunächst am Sanatorio vorbei und trifft wenig später auf den Weg von Siete Cañadas zum Parador. Von dort wird uns ein Pfad zum Parkplatz bei der Montaña Majua zurückbringen. Der Reiz dieser Route liegt darin, dass es sich wegen der tollen Panoramablicke lohnt, sie einmal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn zu machen. Beide Richtungen bieten unterschiedliche Eindrücke, noch verstärkt durch die Besonderheiten der wechselnden Jahreszeiten.
Jetzt, im Hochgebirgswinter, wenn die Pflanzenwelt etwas eintönig erscheint, fallen die geologischen Besonderheiten stärker auf. Rechts des Weges erhebt sich der flache Hügel der Montaña Majua. Er ist von einer dicken Schicht aus hellem Bimsgranulat bedeckt. Man kann nicht erkennen, was sich darunter verbirgt. Wesentlich schroffer und zerklüfteter begleitet ein erstarrter Strom aus Blocklava den ebenen Weg auf seiner linken Seite. Rostrot, braun und ein tiefes Schwarz sind seine Farben. Häufig besteht dunkle Lava aus Basalt. Diese hier glänzt jedoch häufig in der Sonne und verrät sich so als Obsidian, ein vulkanisches Glas. Er entsteht, wenn phonolithische Lava rasch abkühlt. Kann sie langsamer abkühlen, entsteht aus ihr ein hellgraues Gestein. Unterwegs können wir den Ursprung dieses Lavastroms an der Montaña Blanca ausmachen und erkennen, wie er in breiter Front über deren Flanke hierher herabgeflossen kam. Phonolithische Lava ist sehr zäh, fließt nur wenig in die Breite und kann Dicken von mehr als fünfzig Metern erreichen. Etwas weiter voraus bietet sich nach links der Blick in eine tiefe Senke. Sie ist von zahlreichen dicken Blocklavaströmen eingefasst. Uns gegenüber liegen zwei von ihnen übereinander und bilden gemeinsam eine fast Hundert Meter hohe Wand. Basaltströme werden nie so dick, erreichen unter günstigen Bedingungen etwa fünfzehn Meter. Wir können das leicht erkennen, wenn wir nach unserer Wanderung am Parador vorbei nach Süden fahren und die Lavaströme der Narices del Teide betrachten.
Phonolith ist hellgrau, Obsidian schwarz – und was ist das Rostrote? Rost. Bei mehr als 10% Eisengehalt in phonolithischer Lava ist es nur eine Frage des Klimas und der Zeit, wann sich an der Oberfläche dieses Gesteins Rost bildet. Wenden wir uns hin und wieder um und blicken zurück zum Teide und zur Montaña Blanca, sehen wir die jüngsten Lavaströme schwarz am Teide herabziehen. Auch sie bestehen aus Obsidianen. Daneben sehen wir rostrote phonolithische Lavaströme, die dreißigtausend Jahre alt sind. Die Phonolithe der Montaña Blanca sind etwa zweitausend Jahre jung. Teilweise waren sie so zäh, dass sie an den Flanken des Vulkans kleben blieben und seinen Fuß nicht erreichten.
Die große Zähigkeit der Obsidianlaven verhinderte, dass diese die vor uns in Wegrichtung liegenden Wände der Cañadas erreichen konnten. Wo sie enden, senkt sich der Weg deswegen sanft abwärts, bis wir den Weg zwischen Siete Cañadas und dem Parador erreichen. Von dort an wenden wir uns nach rechts und gehen in sanftem Auf und Ab weiter. Lange bevor er die heute sichtbaren Lavaströme ausspuckte, brachte der Teide dünnflüssigere Basaltlava hervor, die bis an die Steilabstürze fließen und sich dort stauen konnte. Dadurch entstanden die Ebenen am Wandfuß, die uns einen leichten Weiterweg bieten.