Wandern und Entdecken

Michael von Levetzow

Michael von Levetzow

Abendlicht

Die Lufthülle unserer Erde ist ein gewaltiges Prisma. Schräg einfallende Lichtstrahlen der Sonne werden dadurch gebrochen und in ihre Spektralfarben zerlegt. Irgendwo auf der Erde erscheint deswegen das Licht für einen kurzen Zeitraum immer in rötlichen oder orangen Tönen. Denn dort, wo die Sonne auf- oder untergeht, fallen ihre Strahlen schräg in das Luftprisma und nur die gelben bis roten Lichtanteile werden zum Auge der Betrachter gelenkt. Unser blauer Planet dreht sich also in einem schmalen roten Ring aus Morgen- und Abendlicht. Fotografen schätzen dieses farbige Licht wegen seiner besonderen Stimmungen, aber auch zahlreiche Urlaubsgäste, die sich insbesondere gegen Sonnenuntergang an Orten sammeln, an denen dieses Farbschauspiel gut zu beobachten ist, und manch eine Bar mit günstigem Meerblick nach Westen macht um diese Zeit ihre besten Umsätze. Auf unseren Inseln muss man sich fast überall entweder mit dem Betrachten der Farbspiele des Sonnenaufgangs oder denen des Sonnenuntergangs begnügen. Denn entweder steigt die Sonne zu spät über die Berge im Osten, und es ist längst hell, wenn sie endlich erscheint, oder sie verschwindet hinter den Bergen im Westen schon lange, bevor sie wieder den Horizont berührt. Die Farben erscheinen nur sichtbar, wenn sie auf etwas treffen, das sie reflektiert. Das können Landschaftselemente wie Felsen oder Berghänge sein, die von der auf- oder untergehenden Sonne beleuchtet werden. Über dem Horizont, weit draußen über dem Meer, reflektieren Staubpartikel das Licht besonders gut. Deswegen bleibt es dort auch noch einige Minuten hell, wenn die Sonne schon nicht mehr sichtbar ist. Beide Phänomene – rote Berge und ihnen gegenüber ein roter Horizont – treten allerdings für gewöhnlich nicht gemeinsam auf.

Michael von Levetzow
Michael von Levetzow

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Wer bereits bei Sonnenaufgang auf der Guajara oder der ebenso hohen Montaña Blanca ankommt, kann wunderbare Lichtstimmungen erleben. Ein so zeitiger Aufbruch ist aber vielen Urlaubern nicht möglich, selbst wenn sie wollten. Sie müssten dafür von ihrer Unterkunft schon drei bis vier Stunden früher losgefahren sein. Und selbst gegen 6:00 h aufzubrechen, um bei Ende der Dunkelheit die Teidebasis zu erreichen, ist für viele eine Herausforderung, die anzunehmen sich allerdings lohnen kann. Von dort kann man ab etwa 7:00 h in Richtung Sanatorium der aufgehenden Sonne entgegenwandern. Dabei ändern sich Farben und Konturen im Minutentakt.

Anders ist es abends. Das scheinen aber nur wenige zu wissen. Fast alle Wanderer und Wandergruppen kehren vielleicht noch nach Ende ihrer Tour irgendwo ein, aber schon Stunden vor Sonnenuntergang, wenn die Bars von El Portillo schließen, wird es rasch menschenleer in den Cañadas. Statt gleich ins Tal zu fahren, könnte man sich ein gemütliches Plätzchen in der Nähe der Straße suchen und einfach abwarten, beobachten. Solange die Sonne noch ziemlich steil über uns steht und die Schatten kurz sind, müssen wir uns gedulden. Wir könnten in dieser Zeit versuchen, die Pflanzen kennenzulernen, von denen es einige Arten weltweit nur hier oben gibt. Oder die unterschiedlichen Gesteinsarten anschauen. Steine, die wir in die Hand nehmen, sollten wir bitte möglichst wieder sorgsam an ihren Platz legen. Sie sind Teil des Lebensraums zahlloser Kleintiere, die unter ihnen Schutz suchen – Schutz vor Feinden, Schutz vor Hitze und Trockenheit oder Kälte und Wind. Das Farbenspiel kommt erst mit dem Längerwerden der Schatten.

Michael von Levetzow
Michael von Levetzow

Die kanarische Höhenluft gilt als trocken und staubfrei. Deswegen wurden auf Teneriffa und La Palma zahlreiche astronomische Observatorien errichtet. Sie zählen zu den besten der Welt. Nicht alle Tage sind staubfrei, aber wenn die Bedingungen zur Beobachtung des Sternenhimmels günstig sind, haben wir auch beste Chancen, die Berge und Felsen östlich des Teide in feurigem Rot zu erleben. Was in den europäischen Hochgebirgen „Alpenglühen“ heißt, hat hier keinen entsprechenden Namen. Seine Intensität übertrifft aber das Alpenglühen deutlich. Grund dafür ist das kanarische Klima und die dadurch bedingte besonders klare Atmosphäre. An den meisten Tagen hindert hier absinkende tropische Luft die Wolken am Aufsteigen. Über dem Mar de Nubes, dem Wolkenmeer, ist die Luft klar und an vielen Tagen die Fernsicht sehr gut. Denn nicht nur die Wassertröpfchen der Wolken bleiben unten gefangen, sondern auch der Staub in der Luft. Meistens sehen wir deswegen nur die Höhen der Nachbarinseln aus Dunst und, oder, Wolken in den klaren Himmel ragen, während ihre unteren Teile in den trüberen unteren Schichten verborgen bleiben. Eine der besten Gegenden, an klaren Abenden das Bergglühen zu erwarten, ist die Umgebung der Roques de García.

In Zeiten von Calima, wenn heiße Winde afrikanischen Staub über den Atlantik wehen, und alles im Dunst verschwindet, kann man dort oben bei Sonnenuntergang eventuell einige fast schon gespenstische Momente erleben. Hat man das Glück, dass die Calima gerade zu Ende geht und die staubigen Luftmassen im Westen verschwinden, sollte man nicht auf ein Bergglühen hoffen. Schöne Stimmungen sind dennoch nicht ausgeschlossen. An solchen Abenden warte ich den Sonnenuntergang an der Westseite der Montaña Guamaso ab. Ein guter Rundweg führt auf halber Höhe um diesen Schlackenkegel und bringt uns leicht in eine günstige Position, um die Sonne im Meer versinken zu sehen. Es gibt im Nationalpark nicht viele Plätze, an denen dieses Schauspiel erlebbar ist. Dieser ist der günstigste. Die abziehende Staubwolke am Horizont beschert uns dort einen intensiv roten Himmel, ganz besonders nachdem die Sonne schon verschwunden ist. Im Tal herrscht zur gleichen Zeit noch Calima-Dunst und kein Gedränge in den Bars mit inbegriffenem Sonnenuntergang an klaren Tagen.
Ob sich ein Farbenschauspiel bietet und welches, hängt von der Wetterlage ab. Wer das Erlebnis mit einer kleinen Abendwanderung verbinden möchte, sollte unbedingt eine gute Lampe mitnehmen; denn nur in klaren Vollmondnächten sieht man dort oben auch ohne Lampe genug. Übernachtungen im Nationalpark sind nur im Parador-Hotel und in der Teide-Schutzhütte erlaubt, auch nicht im Wohnmobil.

Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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