Adressbuch


Gedanken für mich – Augenblicke für Gott

Ein Adress- oder auch ein Notizbuch hat trotz des elektronischen Zeitalters eigentlich fast jede und jeder von uns. Manchmal bekommen es die Schulanfänger bereits in Form eines Poesie-Albums mit auf diesen neuen Lebensabschnitt.

Dann werden da über Jahre oft mühsam und mit krakeligen Buchstaben die Adressen der Freundinnen und Freunde reingeschrieben, versehen mit ein paar Bildern oder auch Eigenschaften der entsprechenden Person. Im Laufe der Jahre, wenn dann ein Adressbuch das Poesie-Album abgelöst hat, kommen weitere Personen hinzu. Studienfreunde, ArbeitskollegInnen, Urlaubsbekanntschaften. Man könnte auch sagen: In einem Adressbuch findet man Arbeit, Freizeit, Freunde, Flirts und Liebesgeschichten. Immer mehr Adressen kommen hinzu, immer mehr Menschen. Und wenn man dann mal an den Punkt kommt, an dem ein neues Adressbuch geschrieben werden muss, weil das alte total zerfleddert ist, dann denke ich manchmal: Wer war denn das? Wieso steht diese Person hier drinnen? Weiß ich gar nicht mehr!

Oder aber auch: Schade, dass ich die oder den aus den Augen verloren habe. Was sie wohl macht? Ob er noch unter dieser Adresse zu finden ist? Und man nimmt sich vor, sich doch mal wieder zu melden. Es kann aber auch sein, dass man auf Namen stößt, bei denen man sofort den Gedanken hat: Hoffentlich hat sich das erledigt. Den Namen schreib’ ich mir gar nicht mehr auf. 

So ein Adressbuch ist wie eine Art Beziehungskiste. Es spiegelt die Kontakte, die wir haben, die wir hatten… auch die, die wir uns wünschen und aus denen nie etwas geworden ist. Und je älter wir werden, umso mehr stehen auch Menschen in solchen Adress­büchern, die nicht mehr unter uns sind, die nicht mehr da sind.

Eine alte Dame, die mir sehr vertraut war, hatte einen regen Briefwechsel mit vielen Menschen in der ganzen Welt. Und genau diesen Briefwechsel wollte sie geordnet hinterlassen. Deshalb wollte sie kurz vor ihrem Tod, dass auch ihr Adressbuch noch einmal neu geschrieben wird. Ihre Mitarbeiterin hatte also den Auftrag, die Adressen aus einem mehr als 30 Jahre alten Buch, das sich mehr als lose Blattsammlung gezeigt hat denn als Buch, in eben ein solch neues Adressbuch zu übertragen. Und bei jedem Namen erzählte die alte Dame eine lange Geschichte: Von Liselotte in Paris, der Jüdin, die den Nazi-Schergen entkommen war. Von Paul, dem Sammler von Nashörnerstichen und von Ernst, dem Architekten. Und als sie ihre Geschichten erzählt hatte, seufzte sie und sagte: Liselotte ist schon seit zwanzig Jahren tot und Paul ist im vergangenen Jahr gestorben. Ernst – ach Ernst, der ist schon so lange tot, dass ich es gar nicht mehr weiß. Und dann, nach kurzem Besinnen sagte die alte Dame zu ihrer Mitarbeiterin: Schreiben Sie! Und so wurden in das neue Adressbuch längst verlassene Adressen eingetragen: Von Ernst in München, von Liselotte in Paris, von Paul in Berlin. Die alte Frau wollte sie da drinnen stehen haben, denn sie gehörten zu ihrem Leben, ganz egal ob sie am Leben waren oder nicht.

Ich glaube schon, dass wir so eine innere Sehnsucht danach haben, dass die Menschen bei uns bleiben, die zu uns gehören – und wenn es sich dabei nur um ihre alten Adressen handelt. Jeder Mensch, der verloren geht, bleibt für unsere Gedanken, für unser Erinnerung eine Adresse. Und das gilt auch und besonders dort, wo der Tod als scheinbar anonyme Masse daherkommt – so wie heutzutage in Fernsehbildern. Diese suggerieren uns oft den Eindruck, als komme es da auf ein Menschenleben hin oder her gar nicht mehr an. Deshalb kann ich auch die Menschen in den Unruhe- und Kriegsgebieten dieser Erde oder den Plätzen von Naturkatastrophen nachempfinden, wenn sie ihre toten Angehörigen bergen wollen, um der Welt zu zeigen, dass diese Menschen nicht anonym sind, sondern ein Gesicht haben; dass es Menschen mit Beziehungen sind, die anderen ganz schrecklich fehlen. Und wenn sie ihre Toten bestatten wollen, dann hat das wohl auch damit zu tun, dass sie einen Ort, eine Adresse für ihren Schmerz haben möchten, einen Platz, an dem sie sich erinnern können. Jede und jeder von uns hängt doch an vielen geheimnisvollen und unsichtbaren Fäden mit anderen zusammen.

Die Heilige Schrift der Christen und Juden sagt: Gott hat auch eine Art Adressbuch. Und wir können sicher sein, dass wir bei ihm unsere erste und unsere letzte Adresse haben. Er wird keinen Menschen vergessen – nicht die Lebenden und nicht die Toten. Oder wie es Psalm 139 sagt: „Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet.“ Für mich heißt das: Keiner wird vergessen. Kein einziger Mensch. Es wird von uns Notiz genommen – auch und gerade von Gott.

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und

Residentenseelsorger

Diesen und frühere Artikel können Sie nachlesen unter: www.katholische-gemeinde-teneriffa.de oder www.wochenblatt.es

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