Auf Teneriffa waren über 200.000 Menschen tagelang ohne Strom, Wasser und Telefon
Nicht ohne Vorwarnung trafen die Ausläufer des Tropensturms Delta auf die sonst vor Hurricans scheinbar sicheren Kanarischen Inseln. Die Schulen und Universitäten waren am 28. November aus Sicherheitsgründen schon mittags auf dem ganzen Archipel geschlossen worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Delta bereits La Palma erreicht. Später am Nachmittag kam der verheerende Sturm mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 200 km/h nach Teneriffa, wo die größten Schäden entstanden.
Besonders schlimm erwischte es den Süden der Insel und die Städte Santa Cruz und La Laguna. Auf den berühmten Ramblas aber auch entlang der Avenida Anaga in Santa Cruz wurden uralte Bäume entwurzelt. Im Hafen riss sich die Fähre JJ Sister los und versenkte bei ihrem ziellosen Treiben im Hafenbecken einen Schlepper. In den kanarischen Häfen wurden zahlreiche Sportboote schwer beschädigt. Auf Teneriffas Nordflughafen wurden 145 Tonnen schwere Flugzeuge von den starken Windböen bewegt. Der Flugverkehr musste zeitweise eingestellt werden. Mauern gaben nach, Reklameschilder stürzten herab, Dachziegel flogen durch die Gegend. Die Regierung forderte die Bevölkerung auf, nicht aus dem Haus zu gehen. Die Mitarbeiter der Kaufhäuser El Corte Inglés, Carrefour und Decathlon konnten auch über Nacht nicht nach Hause, ebensowenig rund 400 Passagiere, die auf dem Flughafen Los Rodeos sitzen blieben. Die Schäden in der Landwirtschaft gehen in die Millionen. Gemüse- und Obstplantagen wurden teils komplett zerstört.
Am spektakulärsten war sicherlich das Umstürzen der riesigen Strommasten, die zu einem tagelangen Stromausfall in vielen Inselgemeinden führten. Die Einwohner von Santa Cruz und La Laguna sowie zahlreicher kleinerer Ortschaften waren fünf Tage ohne Strom. Die Wasserversorgung wurde vielerorts durch den Ausfall der elektrischen Pumpanlagen ebenfalls unterbrochen. Auch Telefonverbindung gab es keine mehr. Mobilfunk funktionierte nur noch zu 50%.
Der Stromausfall rief Plünderer auf den Plan, die sich an Geschäften in Santa Cruz und La Laguna zu schaffen machten, von einem Sondereinsatzkommando der Polizei jedoch in Schach gehalten werden konnten. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um Einzelfälle handelte.
19 Menschen kamen ums Leben
Der Tropensturm kostete auf den Kanaren 19 Menschen das Leben, darunter 18 afrikanische Flüchtlinge, deren Boot 400 km südlich von Gran Canaria im Sturm kenterte. Sechs Immigranten wurden tot geborgen und 12 weitere vermisst. In Puerto del Rosario auf Fuerteventura kam ein 63-jähriger Mann ums Leben, der während des Unwetters Reparaturarbeiten am Dach seines Hauses durchführte.
Der kanarische Regierungschef Adán Martín erhielt Anrufe vom König und von Regierungschef Zapatero, die sich nach der Lage auf dem Archipel erkundigten und ihre Solidarität zusicherten.
So schnell wie er gekommen war verschwand der unbarmherzige Tropensturm dann am Dienstag auch wieder. Bereits gegen Mittag konnte man in einigen Touristenorten wieder Urlauber in den Cafés sitzen sehen – auch wenn die Kaffeemaschinen nicht funktionierten. Währenddessen wurde mit den Aufräumungsarbeiten und der Auswertung der Schäden begonnen, die in die Millionen gehen.
Schäden in Millionenhöhe
Vize-Regierungschefin Fernández de la Vega besuchte die verwüsteten Gebiete
Der kanarischen Bevölkerung blieb in den Tagen nach dem Sturm wahrlich keine Zeit, sich von dem Schreck zu erholen. Denn während die einen noch versuchten, sich mühselig in einem – wenn auch vorübergehenden – Leben ohne Strom und Wasser einzurichten, wurden allseits bereits die Schäden ausgewertet, die der Sturm auf den Kanarischen Inseln angerichtet hatte – mit wachsendem Schrecken.
Am schlimmsten hat es zweifellos die Landwirtschaft getroffen. Viele kanarische Landwirte und Bauern beklagten nicht nur den 100%igen Verlust ihrer diesjährigen Ernte. Auch die Ernten der kommenden Jahre, insbesondere im Bereich des Bananenanbaus, seien beeinträchtigt. Plantagen wurden zerstört, Treibhäuser zerfetzt und Pflanzen und Bäume ausgerissen.
Nicht minder schwerwiegend sind jedoch auch die Verwüstungen an zahlreichen Gebäuden und dem Straßennetz, ganz zu schweigen von den erheblichen Schäden, die am kanarischen Stromnetz entstanden sind. Bislang werden die Kosten für Wiederherstellung, Reparatur und Entschädigungen auf 300 Millionen Euro geschätzt.
Um sich persönlich von der Verwüstung ein Bild zu machen, war die spanische Vizeregierungschefin María Teresa Fernández de la Vega vier Tage nach dem Sturm auf die Inseln gereist, wo sie die am schlimmsten betroffenen Gebiete besichtigte und sich bemühte, den Menschen dort Trost zuzusprechen und Vertrauen in die öffentlichen Institutionen zu vermitteln. Die Zentralregierung werde alles daran setzen, ein umfangreiches Hilfsprogramm ins Leben zu rufen.
Zugesagt wurden bislang unter anderem erhebliche finanzielle Hilfen beim Wiederaufbau von öffentlicher Infrastruktur. Im Bereich der Landwirtschaft sollen staatliche Entschädigungsgelder die Summen beisteuern, die von Versicherungen nicht abgedeckt sind. Und Eigentümern beschädigter Wohnungen und Geschäftslokale soll unter anderem durch die vorübergehende Freistellung von der Grundsteuer unter die Arme gegriffen werden.
Gran Canaria beweint Finger Gottes
Das Naturdenkmal könnte wieder aufgebaut werden
Auf Gran Canaria wurde durch das Unwetter eines der Wahrzeichen der Insel, das als Finger Gottes bekannte Naturdenkmal an der Küste von Agaete, zerstört. Die Spitze des Basaltfelsens, die 30 m hoch wie ein Finger in den Himmel ragte, brach ab und stürzte ins Meer. Die Canariones sind untröstlich. Agaetes Bürgermeister Antonio Calcines schlug sogleich vor, den Felsen zu rekonstruieren. Es habe sich immerhin um eine wichtige Touristenattraktion und ein Symbol der Insel Gran Canaria gehandelt, gab er zu bedenken. Taucher haben die abgebrochenen Felsbrocken in geringer Tiefe gefunden. Mittlerweile wird darüber beraten und diskutiert, was mit den „Fingerresten“ geschehen soll. Verschiedene Vorschläge liegen auf dem Tisch: zum einen der Wiederaufbau des Felsens, der von Bürgermeister Calcines befürwortet wird, zum anderen schlug die Zeitung Canarias7 vor, die Felsbrocken in einem Museum auszustellen. Auf dem Meeresgrund will die Bruchstücke des Finger Gottes keiner lassen, denn da könnten ja Hobbytaucher kommen und das Denkmal Stückchen für Stückchen als Trophäe mitgehen lassen…
Unelco-Babyboom in 9 Monaten?
Einen positiven Nebeneffekt hatte Delta auf die menschlichen Beziehungen. Durch TV und Computer verarmte familiäre Kontakte blühten förmlich auf. Plötzlich saß die Familie bei Kerzenlicht wieder beisammen, spielte Trivial Pursuit oder die spanische Version des Mensch-Ärgere-Dich-Nicht – ein Motto, das bei dem anhaltenden Stromausfall angesagt schien, denn die meisten Menschen nahmen’s mit Humor. Per SMS wurden wahre Dankesschreiben an Unelco in Umlauf gesetzt, in denen sich die Menschen für die „leidenschaftlichen Nächte“, die ihnen das Stromunternehmen beschert hatte, bedankten. Es wird bereits mit einem so genannten Unelco-Babyboom in neun Monaten gerechnet.
Andere witzelten, dass Unelco sie dazu gezwungen habe, wieder miteinander zu reden. Besonders humorvoll war eine E-Mail, in der sich der Absender dafür bedankte, durch die ungewollte Diät – kein Kochen möglich – abgenommen und durch das Treppensteigen – kein Lift funktionierte – körperlich fitter geworden zu sein. Weniger lustig ist die Tatsache, dass inselweit bis zu 1.000 Tonnen Lebensmittel vernichtet werden mussten, weil die Kühlanlagen nicht funktionierten. Die Gesundheitsbehörde hatte mehrfach dazu aufgerufen, angetaute Lebensmittel durch ausgefallene Tiefkühltruhen nicht zu verzehren.
Untersuchungsverfahren gegen Unelco eingeleitet
Santa Cruz rügt Adán Martín wegen versäumter Überwachung der Instandhaltungsarbeiten von Unelco-Endesa
Was haben das Münsterland und Teneriffa gemeinsam? Bis vor kurzem rein gar nichts. Aber seit Delta die Kanaren heimsuchte doch einiges, z. B. umgestürzte Strommasten mit der Folge, dass über 200.000 Menschen tagelang ohne Stromversorgung waren. Dabei trifft es die Bevölkerung auf Teneriffa noch nicht einmal so schlimm, denn hier wird keine Heizung gebraucht.
Ebenso wie in Deutschland nun untersucht wird, ob der Stromversorger RWE eventuell für die Mast-Zusammenbrüche verantwortlich gemacht werden kann, soll auch auf Teneriffa eine Sonderuntersuchungskommission feststellen, ob durch fehlende Instandhaltung morsche Masten auf der Insel die Stromversorgung gefährden. Dem Energiekonzern Unelco-Endesa wird vorgeworfen, in den letzten Jahren nicht genügend in das Stromnetz investiert zu haben. Ob die Masten den starken Windböen hätten standhalten müssen, die mit bis zu 200 km/h über die Insel fegten, soll nun untersucht werden. Ungeachtet des Ergebnisses dieser Untersuchung wollen die Gemeinden Santa Cruz und La Laguna Unelco-Endesa verklagen.
In den ersten Gemeinderatssitzungen nach dem Sturm wurden Fotos umgestürzter Masten vorgelegt, die eindeutige Roststellen aufwiesen. Daraus wird gefolgert, dass Unelco keine korrekte Instandhaltung betrieben und durch marode Masten wissentlich die Energieversorgung riskiert hat. Da der Regionalregierung die Verantwortung für die Überwachung von Unelco zufällt, wird nun Regierungschef Adán Martín gerügt. Die Sozialisten erinnerten an einen Beschluss der Regionalregierung von 1996, in dem es hieß, dass die Masten alle drei Jahre erneuert werden müssen. „Jetzt sind neun Jahre vergangen, es kommt ein Sturm und keiner hat etwas unternommen“, klagte PSOE-Sprecher Javier Abreu.
Dem Monopolisten wird allerdings nicht nur angekreidet, die Stromversorgung durch vermeintliche Sicherheitsmängel gefährdet zu haben. Auch die Reaktionen auf das Desaster seien unzureichend gewesen, heißt es. Zwar arbeiteten über 100 Techniker an der Wiederherstellung der Stromversorgung, doch die Tatsache, dass auf dem Archipel nicht einmal das für die Reparaturen notwendige Material vorhanden war, ist unverständlich. Vom Festland mussten Stromgeneratoren sowie Ersatzteile aller Art eingeflogen werden. Dies verzögerte die Reparaturarbeiten und führte dazu, dass sogar fünf Tage nach der Katastrophe tausende Haushalte noch keinen Strom hatten. Am Samstagnachmittag nach dem Sturm ging endlich in Santa Cruz und La Laguna das Licht wieder an. Unelco teilte mit, die Stromversorgung sei wieder hergestellt und funktioniere „mit absoluter Normalität“. Mitnichten, denn einige Ortsteile von Güímar hatten immer noch keinen Strom.
„Schlimmste Katastrophe in der Geschichte von Endesa“
Die Mast-Zusammenbrüche durch den Tropensturm Delta haben Teneriffa den längsten Stromausfall seit 1977 beschert. José María Plans, Generaldirektor von Unelco-Endesa, bezeichnete die Stromkrise als „die schlimmste Katastrophe, die Endesa in seiner Geschichte erlebt hat, nur vergleichbar mit dem Kollaps der französischen EDF vor Jahren oder dem großen Stromausfall von New York.“ Der Unelco-Chef versicherte in einem Interview mit der Zeitung El País, dass die Strommasten so gebaut sind, dass sie einer Windstärke von 120 bis 150 km/h standhalten. „Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich diese Masten umgebogen sehen würde. Dass sie sich wie Gummi gebogen haben, zwingt uns, das Reglement für ganz Spanien zu überdenken“.
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