Gedanken für mich – Augenblicke für Gott
In seinem Tagebuch überliefert Albert Schweitzer, der unvergessene Arzt und Philosoph, etwas ganz Bemerkenswertes: In einem entlegenen Gebiet Afrikas hat er den Fluss benutzt, um zur schwer kranken Frau eines Kollegen zu kommen. Als er da so auf dem Deck des Schleppkahns saß und eine Herde Nilpferde beobachtete, da kam ihm schlagartig der Begriff: „Ehrfurcht vor dem Leben“ in den Sinn.
Und als er später dann seine Gedanken über Gott und die Welt zu Papier brachte, da fasste er diese Erkenntnis in dem Satz zusammen: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das auch leben will.“
Mich erinnert dieser Satz an die Aussage des Johannes-Evangeliums, welche mir zum Lebensmotto geworden ist: „Damit sie das Leben in Fülle haben“. Und diese Fülle wird für uns alle erfahrbar in dem Geist der Liebe und der Ehrfurcht, den Gott uns schenkt. Aber was erleben wir tagtäglich? Eine Welt, die bis in ihre Wurzeln hinein ehrfurchtslos und somit lieblos geworden ist. Das Leben gilt nichts mehr; vor allem nicht das Leben anderer. Schon die Sprache verrät so manchen Politiker, wenn da z.B. von „ausmerzen“ und „ausrotten“, von „liquidieren“ und „beseitigen“ die Rede ist. Hier ist ja immer menschliches Leben gemeint, das aus der Welt geschafft werden soll.
Nicht umsonst sprechen viele kritische Denker unserer Tage von einer Zeit ohne Werte. Und genau darunter haben Mensch und Natur zu leiden. Denn wo es keine Werte mehr gibt, da werden Menschen zu Opfern; machen Opfer andere zu Opfern. Ausgebeutete beuten andere aus, Unterdrückte werden ihrerseits zu Unterdrückern. Ich bin weiß Gott kein Feind von Wissenschaft und Technik. So freue ich mich über jeden technischen Fortschritt, den ich erleben darf. Aber überall dort, wo unsere Wissenschaftler und Techniker der Meinung sind, auf ethische Werte und Beurteilungen verzichten zu können, wird es eben – trotz aller tollen Errungenschaften – unheimlich und unmenschlich. Der Mensch kommt im wahrsten Sinne des Wortes „unter die Räder“.
Wir alle haben genug Beweise dafür, dass die Mitmenschlichkeit, dass die Ehrfurcht vor dem Leben, die Ehrfurcht vor dem Menschen – und zwar ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, religiöser Überzeugung oder auch sexueller Prägung – an einem Tiefpunkt angekommen ist. Was aber tun, damit es wieder passt? Damit es wieder anders wird? Ich sehe dabei vier Straßen, die sich vor uns auftun, damit Leben wirklich gelingen und sich zum „Leben in Fülle“ entfalten kann. Über jede dieser Straßen müsste intensiver nachgedacht werden, als es hier in diesen wenigen Zeilen möglich ist. Aber das kann ja auch jede und jeder von uns selbst tun. Zum Impuls für uns alle nur so viel:
Da ist zuerst die „Negativstraße“. Auf dieser Straße lernen wir, mit dem Bösen in der Welt umzugehen. Wir lassen uns eben keinen Sand mehr in die Augen streuen; wir zeigen deutlich unsere Wut über das tägliche Unrecht nach Außen und nehmen teil an der Klage und am Leid unserer Mitmenschen. Wir sind bereit, selbstkritisch mit unserer Feigheit und auch mit unserer Schwäche aufzuräumen; und: wir lassen Vorurteile und vertraute Vorstellungen los, wenn sie in Wirklichkeit nichts anderes als Unrecht bedeuten. Aus solidarischen Gründen sind wir offen für Risiken und wir handeln dort, wo andere nur noch den Rücken zeigen. Dann folgt die „Positivstraße“. Damit meine ich das tägliche DANKE sagen, das wir so oft vergessen oder unter den Tisch fallen lassen. Den Dank für unser Leben, für einen lieben Menschen, für den Kreis der Freunde, für ein gelungenes Fest …. Diese Straße bringt uns dazu, die Menschen, aber auch den Tag zu segnen; sich bewusst zu werden, wem wir uns verdanken und dann eben wirklich auf diese Weise Gott zu loben und ihm den Dank zukommen zu lassen, der ihm allein gebührt. Anschließend biegen wir ein auf die „Kreativitätsstraße“. Auf der sind wir besonders herausgefordert, weil viele von uns immer mit angezogener Handbremse fahren. Auf dieser Straße sollen wir aber wagen zu sein, wer wir sind und was wir sind. Wenn wir zu uns stehen, wenn wir unsere Emotionen leben, wenn wir „ich“ sagen können, aber auch voll Zuwendung „du“; wenn wir nicht ständig Zuschauer spielen wollen, sondern aktiv sind, wo wir dringend gebraucht werden; dann kriegen wir den richtigen Wind in den Rücken, um schließlich auf die „Zielstraße“ einzubiegen. Viele sind bereits in diese Straße eingebogen; sind bereit, nicht nur zu sich selbst zu stehen. Sie sind auch bereit, eine neue Einstellung zu finden, damit die Welt so verändert wird, dass es sich in ihr gut leben lässt. Dann sind wir wahrhaft andere Menschen und wir sind dem nähergekommen, was Jesus unter „alles lieben, was da ist“ versteht.
Bertram Bolz, Diakon
Kath. Touristen- und
Residentenseelsorger
Diesen und frühere Artikel können Sie nachlesen unter: www.katholische-gemeinde-teneriffa.de oder www.wochenblatt.es
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