Gedanken für mich – Augenblicke für Gott
„Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.“ Diesen Satz spricht Kassandra, eine Seherin und Prophetin, in dem gleichnamigen Roman von Christa Wolf. Nur schenkt man ihr beim Untergang Trojas keinerlei Gehör.
Es ist – im wahrsten Sinne des Wortes – ein „ver-rückter“ Satz; ein Satz, der das normale Denken „ver-rückt“, es geradezu auf den Kopf stellt. „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, werdet ihr bestehen.“ Normalerweise besteht doch der Sieger und der Verlierer geht unter. Schauen wir doch nur mal auf unsere Gesellschaft: Da zählen doch einzig und allein die, die gewinnen. Wer verliert, der steht am Rande, für ihn oder sie ist kein oder zumindest immer weniger Platz vorhanden. Deshalb tut auch jede und jeder alles dafür, um ja zu den Gewinnern zu gehören. Beim Kampf um den Arbeitsplatz, an der Börse, beim Sport, in der Schule, bei Wettkämpfen aller Art – vom Schönheitswettbewerb bis hin zum fragwürdigen Dschungelcamp: Es geht einzig und allein darum zu siegen. Aber genau das, so Kassandra, kann zum Untergang führen.
Z.B. für einen persönlich: Wenn ich stets danach haste, der Erfolgreichste, Schönste und Klügste zu sein, dann verliere ich schnell den anderen und mich selbst aus dem Blick. Werte wie Freundschaft, Menschlichkeit und emotionale Nähe gehen unter. Und obwohl ich immer zu den Gewinnern zähle, mich einige deshalb vielleicht sogar bewundern, wird mein Leben menschlich ärmer.
Für unsere Gesellschaft als Ganzes: Wenn in der Wirtschaft nur noch die oder der zählt, der in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld verdient, dann kommt eben das dabei heraus, was wir mit den Bankenpleiten erlebt haben. Wenn die Politik nur noch darauf bedacht ist, den Starken möglichst viel Platz zu lassen, gleichzeitig die Schwachen aber immer weniger gefördert werden, dann spaltet sich unsere Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Armut, Verwahrlosung und Gewalt sind die Folge.
Der Satz: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, dann werdet ihr bestehen“, könnte auch in der Bibel stehen. Denn ihre große Botschaft heißt doch auch: Das Leben besteht aus mehr als nur aus Gewinnen und Verlieren. Schon im Alten Testament stellen die Propheten, die Boten Gottes, die Gerechtigkeit über den Sieg. Und Jesus? Er sagt: „Die Ersten werden die Letzten sein“ und schlägt sich konsequent auf die Seite derer, die zu den Verlierern zählen.
Nun beginnt in diesen Tagen die VI. Fußball-WM der Frauen in Deutschland. Manche träumen schon von einem Sommermärchen, wie wir es 2006 bei den Männern erlebt haben. Der einzige Unterschied: Bei den Frauen bestehen wirklich mehr als realistische Chancen, dass Deutschland sich als erstes Land zum dritten Mal hintereinander den Titel sichert. Sie spüren schon anhand dieser wenigen Worte: Natürlich geht es um das Gewinnen. Die Spannung eines Fußballspiels lebt nun mal davon, dass beide Mannschaften gewinnen wollen. Nichts ist schlimmer, als ein müdes Gekicke, bei dem keiner gewinnen will. Und trotzdem: Gerade ein solches Turnier macht klar: Auch im Fußball gibt es mehr als nur Sieg oder Niederlage. Da geht es um die Leidenschaft auf dem Rasen und die Begeisterung auf den Rängen. Eine Mannschaft die leidenschaftlich spielt, aber verliert, die kann trotzdem die Fans begeistern. Das haben wir bei den Männern in eben diesem Jahre 2006 doch erlebt. Ausgeschieden im Halbfinale, wurde diese Mannschaft doch frenetisch beklatscht und gefeiert. Und weshalb? Weil sie mit Leidenschaft dabei war. Deshalb kann man dann aber auch als Verlierer mit erhobenem Haupt das Spielfeld verlassen. Und man kann es auch, weil die Fangruppen verschiedener Länder nach den Spielen miteinander gefeiert, gesungen und getanzt haben.
Genau solche Emotionen wünsche ich auch den 16 Mannschaften der Frauen, die nun um den WM-Titel spielen; dass Verlierer nicht niedergemacht werden, sondern – weil sie alles gegeben haben – auch gefeiert und beklatscht werden. Dann kann auch diese WM ein Sommermärchen werden – ein Sommermärchen, das durchaus etwas mit dem Reich Gottes zu tun hat. Denn dort werden Menschen nicht mehr in Gewinner und Verlierer eingeteilt, sondern alle sitzen um den großen Tisch und feiern miteinander. Das ist die große Vision vom Himmel. Und weil auf Erden meistens nur die Gewinner im Vordergrund stehen, stellt sich Jesus konsequent auf die Seite der Verlierer. Umso wenigstens ein klein wenig Himmel auf die Erde zu bringen.
Übrigens: Natürlich drücke ich unserer Mannschaft die Daumen für den Titelgewinn. Aber wichtiger als der Titel sind wirklich schöne Spiele. Spiele, die die Fans begeistern. Und wenn diese sich dann nicht niederpfeifen, sondern miteinander singen, lachen und feiern, dann ist wieder ein Stück Himmel auf dieser Erde sichtbar – ob nun in Berlin, Frankfurt, Dresden, Sinsheim, Bochum, M’gladbach, Leverkusen, Wolfsburg oder Augsburg.
Ihr
Bertram Bolz, Diakon
Kath. Touristen- und
Residentenseelsorger
Diesen und frühere Artikel können Sie nachlesen unter: www.katholische-gemeinde-teneriffa.de oder bei www.wochenblatt.es
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