Ministerpräsident Sánchez hoffte mit seiner umstrittenen Entscheidung einen Schlussstrich unter den Katalonien-Konflikt zu ziehen, doch die Unabhängigkeitsverfechter verlangen mehr
Madrid/Barcelona – Die spanische Regierung hat in einer stark umstrittenen Entscheidung die neun inhaftierten Führer der Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens begnadigt. Regierungschef Pedro Sánchez hatte nach der Zustimmung seines Kabinetts wissen lassen, mit diesem Schritt wolle er einen Schlussstrich unter die seit Jahren andauernden Konfrontationen ziehen. Mit dieser Entscheidung wolle seine Regierung eine neue Phase der Aussöhnung und des Dialogs beginnen. Die Betroffenen seien jedoch nicht in vollem Umfang begnadigt worden. Nach wie vor bleiben sie von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, wie in den Urteilen vorgesehen. Auch sei die Begnadigung an die Bedingung geknüpft, dass sie keine neuen Straftaten begehen.
Die neun prominentesten Unabhängigkeitsverfechter und Mitglieder der Regionalregierung waren 2019 wegen der versuchten Abspaltung von Spanien zu Gefängnisstrafen zwischen neun und 13 Jahren verurteilt worden. Die damalige Regionalregierung Kataloniens unter Führung von Carles Puigdemont hatte im Oktober 2017 ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten lassen, das zuvor von der Justiz für illegal erklärt worden war, und hatte die Region kurz darauf als unabhängig erklärt. Damit hatte sie die schwerste politische Krise ausgelöst, die Spanien in Jahrzehnten erleben musste.
Die damalige konservative Regierung unter Mariano Rajoy griff hart durch und setzte die Regionalregierung ab. Regierungschef Puigdemont, einige seiner Minister und andere Anführer flohen ins Ausland. Andere Mitstreiter, wie der Vizepräsident Oriol Junqueras, wurden verhaftet und zwei Jahre später vom Obersten Gerichtshof zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
53% der Spanier lehnten die Begnadigungen ab
Über die von Regierungschef Pedro Sánchez angeregten Begnadigungen der Verurteilten wurde seit Wochen sehr kontrovers diskutiert. Das Oberste Gericht äußerte sich ebenso dagegen, wie die meisten Oppositionsparteien. Gemäß einer Umfrage lehnten 53% der Spanier eine Begnadigung ab, dagegen sprachen sich in Katalonien zwei Drittel dafür aus. Nach der Bestätigung durch den Ministerrat wurden die Häftlinge gleich am folgenden Tag auf freien Fuß gesetzt.
Kritiker, besonders aus den konservativen Parteien, werfen Sánchez vor, er wolle durch diesen Schritt seinen Machterhalt sichern. Seine linke Minderheitsregierung ist im Madrider Parlament auch auf die Unterstützung der katalanischen Parteien angewiesen, welche die Unabhängigkeit anstreben.
Sánchez geht mit dieser Entscheidung ein Wagnis ein, denn es ist unklar, ob sie wirklich zu einer Lösung des Konfliktes zwischen Madrid und Barcelona beitragen wird. Der neue Regionalpräsident Pere Aragonès von der linken ERC vertritt zwar einen gemäßigteren Kurs als der kürzlich gerichtlich abgesetzte Vorgänger Quim Torra, welcher der Partei von Puigdemont, Junts per Cataluyna, angehört. Der neue Präsident hat bereits einen Gesprächstermin mit Sánchez, doch auch er forderte statt einer Begnadigung eine Amnestie, die auch für die geflüchteten Politiker gelten würde, sowie ein Referendum über die Selbstbestimmung von Katalonien. Beides lehnt die Zentralregierung entschieden ab. Ungeachtet all dieser Probleme wirbt Sánchez weiter für das Ende des Konflikts. „Spanien wäre ohne Katalonien nicht Spanien, so wie Katalonien ohne das restliche Spanien nicht Katalonien wäre“, erklärte er.
Während die Begnadigten die Haftanstalt verließen, hatten ihre Anhänger bereits eine Bühne aufgebaut, auf der sie ihre Erklärungen abgeben konnten. Von Bedauern oder gar Dankbarkeit keine Spur. Alle beharrten weiterhin auf ihren Forderungen und Standpunkten. So erklärte der Ex-Vizepräsident Oriol Junqueras: „Heute geht nichts zu Ende, alles wird weitergehen“. Er werde auf politischem Weg weiter dafür arbeiten, die Unabhängigkeit zu erreichen, obwohl er für viele Jahre für ein politisches Amt gesperrt ist.
Jordi Turull, ehemaliger Innenminister: „Wir haben eine teilweise Begnadigung mit Bedingungen bekommen, die geändert werden können. Sie sollten gut unsere Vorsätze kennen, das zu beenden, was am. 1. Oktober 2017 (mit dem illegalen Referendum) begonnen hat, denn das ist nicht verhandelbar, auch nicht teilweise“.
Partido Popular, Vox und Ciudadanos werden vor dem Obersten Spanischen Gerichtshof die Begnadigungen der Führer des sogenannten „Procés“ anfechten, obwohl noch umstritten ist, ob sie dafür über die Kompetenzen verfügen.
PP-Chef Pablo Casado ist nach Brüssel gereist und hat sich dort mit Vertretern der Europäischen Volksparteien getroffen, um zu dokumentieren, dass Spanien eine fortschrittliche Demokratie ist. Im eigenen Land musste Casado enttäuscht feststellen, dass Bevölkerungsgruppen und Institutionen, die gemeinhin zu seiner Wählerschaft gehören, ihm nicht bei seinem verbissenen Kampf gegen die Begnadigung der katalanischen Unabhängigkeitsverfechter gefolgt sind. Sowohl der Unternehmerverband, die Gewerkschaften als auch die Kirche, in der Rolle der zehn katalanischen Bischöfe, haben die Begnadigung akzeptiert. So bleibt ihm lediglich Vox als Verbündeter.
[bsa_pro_ad_space id=“8,13″ if_empty=“13″ delay=“5″]