Es handle sich um eine „veraltete und vorkonstitutionelle“ Verordnung
Madrid – Am 8. September 1954 segnete Diktator Francisco Franco in seiner Sommerresidenz Pazo de Meirás im nordspanischen Galicien eine „akademische Disziplinarordnung“ ab, die bis zum heutigen Tage gültig ist und gegen Studierende in Spanien angewandt werden kann, wenn diese sich Vergehen wie Störung der öffentlichen Ordnung, Unehrlichkeit oder Verleumdung zuschulden kommen lassen. Für Rektoren und Professoren gilt hingegen eine sehr viel modernere Variante, nämlich die sogenannte „Disziplinarordnung für Beamte“, die 1986 erlassen wurde.
Der spanische Minister für Universitäten, der Soziologe Manuel Castells, hat sich bereits vor Monaten studentischen Kollektiven gegenüber dazu verpflichtet, diese „veraltete und vorkonstitutionelle“ Verordnung endlich aufzuheben. Dieses Versprechen hat er nun weitestgehend auf den Weg gebracht, denn inzwischen befindet sich der Verordnungsentwurf zur Aufhebung des „reglamento disciplinario universita- rio“ im parlamentarischen und öffentlichen Anhörungsverfahren. „Dieses Reglement ist unter jeglichem demokratischen Gesichtspunkt obsolet und bestrafend“, monierte der Minister wörtlich.
Die Verordnung bestraft Studierende für Vergehen wie „Demonstrationen gegen die Religion oder die katholische Sittenlehre bzw. gegen die staatlichen Prinzipien und Institutionen“ mit dem zeitweiligen oder sogar endgültigen Ausschluss vom Studium. In die Liste der durch diese Disziplinarordnung zu ahndenden Verhaltensweisen gehören aber auch „Verunglimpfung, Beleidigung oder Gehorsamsverweigerung gegenüber den akademischen Autoritäten oder Pro- fessoren“ oder „Urkundenfälschung“ und „sich im universitären Leben als jemand anderes ausgeben“. Nach Ansicht der Regierung können die bisher geltenden Maßnahmen nur als „Verstoß gegen die demokratischen Prinzipien und Rechte, die Freiheit und den religiösen Pluralismus, die religiöse Neutralität des Staates und die heutige Regulierung des spanischen Universitätssystems“ angesehen werden. Dieses Reglement aus Franco-Zeiten sei voller vorkonstitutioneller Gebote und reguliere in keiner Weise die Verteidigung der Studierenden, wird weiter moniert. Außerdem sei keine Verjährung der Verfehlungen vorgesehen, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Verantwortung werde missachtet.
Die Regierung plant keinen Ersatz für die veraltete Disziplinarordnung, zumindest keinen mit Gesetzesrang. Das derzeitige Ley Orgánica de Universidades, kurz LOU genannt, also das Universitätsgesetz mit Verfassungsrang aus dem Jahr 2011, spreche den Universitäten ausreichend Autonomie zu, um diese Angelegenheit durch ihre eigenen Statuten, Organisations- und Betriebsordnungen sowie den Rechte- und Pflichtenkatalog von Studierenden zu regeln. In Universitätskreisen wird das allerdings teilweise als problematisch angesehen, da all diese Richtlinien aufgrund der Tatsache, dass sie nicht den Rang eines Gesetzes haben, nicht gewichtig genug seien.
„Es handelt sich hier um eine Gesetzgebung, die nicht mehr mit der Verfassung vereinbar ist und deswegen aufgehoben werden muss“, befürwortet demnach auch der Vor- sitzende der Vereinigung für studentische Angelegenheiten, Miguel Ángel Collado, den Entwurf der Regierung. Er warnt jedoch davor, keinerlei neue Regelung einzuführen, die einen gesetzlichen Rahmen habe. „Um Sanktionen erlassen zu können, braucht es ein Gesetz. Ein Rathaus kann auch nicht einfach so eine Strafe erlassen, es benötigt auch eine gesetzliche Ermächtigung,“ erklärte er diesbezüglich. „Wir sprechen uns deswegen für die Einführung einer Ordnung für gutes Zusammenleben und nicht für Disziplin aus, da Letztere in den Kompetenzbereich der Regierung fallen würde. Wie wollen weiter Gespräche mit der Regierung führen, um gemeinsam eine Rechtsgrundlage zu finden.“
Das Hochschulstudium wird durch das LOU und die Rechte und Pflichten der Studierenden durch die Statuten des Universitätsstudenten geregelt, beides Gesetzestexte, die im Einklang mit der Verfassung stehen. Doch in den vergangenen 66 Jahren hatte sich keine Regierung an die Aufhebung der Disziplinarordnung gewagt, obwohl der Oberste Spanische Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit mehrmals infrage gestellt hatte. Zwar hatten die Universitäten seit Beginn der Demokratie in Spanien eigene Disziplinartexte eingeführt, dennoch wurde nicht davor zurückgeschreckt, noch mitten im 21. Jahrhundert auch die Franco-Ordnung anzuwenden. So hat das Rektorat der Universität La Laguna beispielsweise 12 Studenten der studentischen Vereinigung Asamblea del Movimiento Estudiantil Canario auf der Grundlage der veralteten Disziplinar- ordnung wegen Verleumdung und Unehrlichkeit angezeigt und bestraft. Die betreffenden Studenten hatten sich formell darüber beschwert, dass 300 Studienbeihilfen einer Fakultät wegen „Pflichtvernachlässigung“ der Universität nicht vergeben werden konnten, da die Anträge nicht fristgerecht bei der entsprechenden Stelle eingereicht wurden.
Für den Minister für Universitäten ist die Aufhebung der Franco-Disziplinarordnung eine persönliche Angelegenheit. Castell musste 1962 als Student der Universität Barcelona vor dem Franco-Regime nach Paris flüchten. „1962 hatten wir zu einer Reihe von Demonstrationen aufgerufen. Und natürlich wurden wir deswegen hart unterdrückt und verfolgt“, erzählte er 2018 in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung La Vanguardia.