In der vergangenen Ausgabe habe ich einige Anpassungsvorteile und Überlebensstrategien der Kanarischen Kiefer (Pinus canariensis) beschrieben: Die lange Pfahlwurzel ermöglicht ihr, auf felsigen und wasserarmen Standorten ans Grundwasser zu gelangen, was andere Baumarten nicht können. Ihre dicke Rinde schützt sie bei Waldbränden und ist ein anschauliches Beispiel für Evolution. Ihr Kernholz ist durch seinen hohen Harzgehalt vor Schadinsekten bestens geschützt und unter anderem deswegen ein in der Vergangenheit begehrtes Bauholz, aus dem die Decken und Dächer von Herrenhäusern und Kirchen gebaut wurden. Der Baum bietet aber noch mehr Wissenswertes.
Wandern wir im Sommer in der Kiefernwaldregion, befinden wir uns dort an den meisten Tagen oberhalb des Wolkenmeeres. Sofern unser Weg keine breite Forstpiste ist, kann das eine recht angenehme Wanderung im Schatten der Bäume sein. Treten wir ins Freie, steigt die Temperatur sofort um mehrere Grade an. Das liegt nicht nur am Schatten, den uns die Bäume spenden. In der Sonnenhitze müssen die Bäume ihre empfindlichen Nadeln kühlen; denn diese besitzen natürlich keine Rinde und daher auch keinen Hitzeschutz. Deswegen verdunsten sie Wasser. Der Verdunstungsvorgang entzieht der Umgebung Wärme, erzeugt also Kälte – nicht nur in den Nadeln, sondern auch in der Luft, so wirksam, dass auch wir davon profitieren können. Alle Landpflanzen kühlen ihre Blätter und Nadeln durch Verdunstung. Dies ist eine ihrer wichtigsten Schutzvorkehrungen vor der sengenden Sonne. Wer Wasser verdunstet, braucht auch Wasserversorgung, sonst vertrocknet er. In der Region der Kiefernwälder können das fast ausschließlich die Kiefern. Sie spielen damit im Inselklima eine wichtige Rolle. So ist es wenig verwunderlich, dass um 1940 Forstleute Alarm schlugen und dringendst ein Aufforstungs-Programm für die Insel forderten, um dem drohenden Wüstenklima vorzubeugen. Damals war die Insel weitgehend entwaldet. In forstlicher, klimatologischer Hinsicht und auch mit Blick auf die Wasserversorgung war es später als „fünf Minuten vor zwölf“. Das Ergebnis kennen wir; das einmalige Klima und die Wälder wurden gerettet.
Nicht nur mit der einheimischen Kanarenkiefer (Pinus canariensis), sondern auch mit der nordamerikanischen Montereykiefer (Pinus radiata) wurde aufgeforstet. Das erschien günstiger. Seitdem 2005 der Wirbelsturm Delta die Insel heimgesucht und hier vor allem letztere wie Streichhölzer abgeknickt und entwurzelt hat, wissen wir es besser. Hier ist die einheimische Art stabiler. Der Laie kann die fremde Art vor allem an ihren dunkleren und wesentlich kürzeren Nadeln (10 – 15 cm) von der kanarischen mit bis zu 30 cm langen und biegsamen Nadeln unterscheiden.
Die Nadeln unseres Baumes spielen nicht nur als Verdunstungsorgan eine wichtige Rolle. Nimmt man sie zwischen zwei Finger und streicht von ihrem Ursprung zur Spitze, wirken sie ziemlich glatt. In umgekehrter Richtung dagegen sind sie rau. Zahlreiche mikrofeine, zur Nadelspitze gerichtete Häkchen bedecken ihre Oberfläche. In der warmen und trockenen Jahreszeit spielen sie wohl keine Rolle. Steigen aber in der kühlen Epoche die Wolken höher und erreichen die Kiefernwaldzone, wirken sie als Kondensationskerne, an denen sich Wassertropfen bilden können. Sie biegen die weichen Nadeln nach unten, und entsprechend der Richtung der Häkchen fließen die Tropfen zur Nadelspitze, um dort abzutropfen. Damit tragen die Kiefern erheblich zur Wasserversorgung der Insel bei; denn dieses „Auskämmen“ der Wolken macht hier etwa zwei Drittel der jährlichen Niederschläge aus. Während der Sommermonate ist dies vorwiegend Aufgabe der tiefer gelegenen Lorbeerwälder.
Die meisten Kiefern auf der Nordseite wurden bei der Aufforstung gepflanzt, sind also bis zu etwa 75 Jahren alt. Anders auf der Südseite. Dort wurden zahlreiche Bäume zur Harzgewinnung genutzt. Als Bauholz waren sie damit uninteressant und überlebten infolgedessen. So begegnen uns auf unseren dortigen Wanderungen ab und zu mächtige, mehrere Hundert Jahre alte Exemplare mit Stamm-Umfängen von mehr als 8 m. Sie sind sehr langlebig. Nur selten steht Totholz in der Landschaft.
Von El Contador führt der einzige Weg westwärts zum Barranco del Río und durchquert diese sonst unpassierbare Schlucht. Zahlreiche Harzbäume und einige Pechöfen erinnern an die Zeit, als hier eine Pechindustrie die Schiffbauer mit wertvollem Pech versorgte. Allein sie zu entdecken, macht diesen Weg schon zu einer Ausnahmeroute. Jenseits der Pechöfen passiert man eine tote Kiefer. Schon vor Langem muss sie abgestorben sein. Dennoch streckt sie – scheinbar wie immer – ihre mächtigen Äste in den Raum. Alt und grau steht sie da. Unten am Stamm leuchtet rötliches Holz hervor. Was wie graue Rinde erscheint, ist in Wirklichkeit Holz, weiches verwittertes Splintholz, noch fest genug, um das äußere Bild von einst zu konservieren. Die Rinde, die immerhin mindestens 10 cm dick gewesen sein dürfte, ist längst vergangen. Was da rötlich und völlig unverwittert hervorleuchtet, ist das Kernholz, Tea genannt. Es zeigt seine Unverwüstlichkeit. Für den Schiffbau war es wenig geeignet; denn Tea ist schwerer als Wasser. Aber für Häuser war es unverzichtbar. Zu handlichen Brettern und Balken gesägt, hat man es in vielen historischen Gebäuden verbaut. Das gesamte Dach einschließlich der Innenvertäfelung der Vorgängerkirche der Kathedrale von La Laguna, die etwa die gleiche Größe wie die aktuelle Kathedrale hatte, soll aus dem Holz nur eines einzigen solchem Baumriesen gebaut worden sein.
Unter der Kiefer neben der Kirche von La Victoria feierten die Eroberer ihren letzten Sieg über die Guanchen mit einer Messe. Seitdem gilt dieser Baum als Symbol der erfolgreichen Eroberung. Für mich ist Pinus canariensis der kanarische Baum schlechthin, auch wenn das Symbol der Inseln die Palme ist. Immerhin hat die Kanarenkiefer es zum Symbolbaum der Insel La Palma gebracht.
Michael von Levetzow
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