Nicht Großbritannien, wie Präsident Rajoy vermutete, sondern León ist die Wiege des europäischen Parlamentarismus
Madrid/London – Dass ein Regierungschef ein Fachmann für sein eigenes Land ist und somit auch belastbare Kenntnisse der Geschichte desselben vorweisen kann, setzt so mancher Bürger voraus – oder erhofft es sich zumindest. Dass dem nicht so sein muss, hat der Ministerpräsident Spaniens hat bei seinem Englandbesuch Anfang des Monats nun schon zum zweiten Mal unter Beweis gestellt.
Mariano Rajoy, der die britische Premierministerin Theresa May kurz vor der Sitzung des Europarates über die Einleitung der zweiten Phase der Brexit-Verhandlungen besuchte, erklärte in einem zeitgleich erschienenen Artikel im „The Guardian“ höflich, die Haltung Großbritanniens zur Katalonienfrage sei besonders wichtig, weil England „die Wiege des Parlamentarismus und des Rechtsstaates“ sei. Theresa May ihrerseits stärkte der spanischen Regierung freundlich den Rücken, indem sie mit Blick auf Katalonien erklärte, es sei „unabdingbar, die Verfassung zu respektieren“.
Im spanischen Vaterland lösten Rajoys Aussagen dagegen große Entrüstung aus. Denn erst 2013 hatte die UNESCO festgestellt, das erste Parlament der westlichen Welt sei 1188 in León aus der Taufe gehoben worden, weshalb die Leoneser „Carta Magna“ zum Weltdokumentenerbe (Memory of the World, MOW) erklärt wurde. Laut der UNO-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur ist die „Carta Magna“ eine „Zusammenstellung von Dokumenten, welche die ältesten bekannten schriftlichen Informationen über das europäische parlamentarische System enthalten“.
Verärgert forderte das „Bürgerkollektiv des Königreichs León“ (CCRL) eine Richtigstellung durch den Ministerpräsidenten. Der Verband, der die Einrichtung einer neuen autonomen Region namens „País Leones“, bestehend aus den Provinzen León, Salamanca und Zamora anstrebt, erklärte auf seiner Website, Rajoy habe mit „kompletter Unkenntnis der Geschichte des Königreichs León“ geglänzt. Auch Javier Alfonso Cendón (PSOE), Chef der Leoneser Sozialisten, meldete sich zu Wort und erklärte, er erachte es für „unzumutbar“, dass Mariano Rajoy Schlüsselereignisse der politischen Geschichte seines Landes nicht kenne und sie obendrein noch einem anderen Land zuerkenne. Auch die Partei „Unión del Pueblo Leonés“ (UPL) äußerte ihre „absolute Empörung“ über den Geschichtsirrtum des spanischen Regierungschefs. „Sie zeigen damit nur Ihre Ungeschliffenheit und Ihren Mangel an Kenntnis über das Zeitgeschehen“, warf die ULP Rajoy vor und forderte ebenfalls eine Richtigstellung.
Die älteste Nation
Schon im vergangenen März hatte Rajoy einen ähnlichen Fauxpas begangen, indem er im Zusammenhang mit einer Aussage des ehemaligen katalanischen Ministers Francesc Homs, der wegen des Unabhängigkeitsreferendums von 2014 vor Gericht stand, zum wiederholten Mal behauptete, Spanien sei die älteste Nation Europas. Die Historiker sind sich jedoch einig, dass Frankreich und Großbritannien den Spaniern in diesem Punkt um mehrere Jahrhunderte zuvorgekommen sind.
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