Vorweihnachtszeit. Kastanienfeuer. Heiße Maronen. Vielleicht mit einem Gläschen neuem Wein. Wir kennen das von deutschen Weihnachtsmärkten. Und auch in anderen Gegenden Europas lebt dieser Brauch. Mangels Fichten und Tannen haben es zahlreiche deutsche Weihnachtssymbole auf den Kanaren ziemlich schwer. Schön, dass man wenigstens diesen Brauch übernommen hat. Wirklich? Hat man? Hat man nicht. Esskastanien sind hier nicht nur in ihrer gerösteten Variante zu Hause. Es gibt sie gekocht, in Süßspeisen, in Gebäck. Sie gehören zur kanarischen Küche, fast schon so wie das Gofio, nur nicht ganz so lange.
Rosskastanien suchen wir auf den Inseln vergeblich. Ihre Samen sind viel zu groß und zu schwer, um beispielsweise von Vögeln schon vor Urzeiten hierhergebracht worden zu sein, wie das mit so vielen anderen Pflanzensamen im Laufe der Jahrmillionen geschehen ist. Ein erheblicher Teil der kanarischen Pflanzenwelt geht auf solche verschleppten Samen zurück, die den wochenlangen Kontakt mit dem Salzwasser des Ozeans nicht überstanden hätten. Auch die Edelkastanie war für diese Verbreitung viel zu ungeeignet. Seit der Römerzeit wurde sie in Europa überall angepflanzt, wo sie wachsen konnte: In den Schweizer Bergen, in Südtirol, in Frankreich, im Schwarzwald. Lange bevor die Kartoffel aus Südamerika nach Europa gebracht und zu einem der wichtigsten Grundnahrungsmittel wurde, war die Kastanie ein wichtiger Energie- und Eiweißlieferant, der in der mittelalterlichen Ernährung nicht fehlen durfte. Die vorweihnachtlichen Röstkastanien sind nichts weiter als ein kleiner Rest der ursprünglichen Verwendung, eine Erinnerung an die ehemals große Bedeutung dieser Frucht. Kein Wunder, dass bereits die ersten Kolonisten Kastanienbäume auf die Inseln brachten und zwar genau in der Reihenfolge, in der die Inseln erobert wurden. Wenig später kamen auch die Kartoffeln hier an.
Beide ließen sich am besten in der gleichen Klimazone, der Höhenstufe oberhalb 600 m und unterhalb des Monteverde anpflanzen. Soweit dort auch Wein angebaut werden konnte, pflanzte man Kastanien und Kartoffeln noch weiter oben an, wie es in der Gemarkung von Acentejo noch heute gut zu erkennen ist. Acentejo ist ein Guanchen-Wort und bezeichnet möglicherweise den Ort, „an dem das Rauschen nie aufhört“. Vielleicht eine Anspielung auf die Barrancos dort, in denen bis vor weniger als 100 Jahren noch reichlich Wasser floss. Heute kann es dort oben sehr still sein. Man begegnet selten Menschen, je weiter man den Berg hinaufsteigt oder -fährt; denn angesichts der steilen Wege hat die Gemeinde von La Victoria dort keine Fußwege markiert, sondern Autorouten, über die sich das Gebiet erkunden lässt. Für die steilen Asphaltpisten macht das auch Sinn. Weiter oben werden die Wege aber flacher und lassen uns nach Belieben zu Fuß in die Landschaft eintauchen. Ganz oben gelangen wir in Monteverde, hier überwiegen Baumheide und Gagelbaum, aber der Streifen darunter ist wunderschön und erinnert mit seinen von hohen Bäumen eingefassten kleinen Wiesen an englische Parklandschaften. Schauen wir genauer hin, entpuppen sich die Wiesen als ehemalige Ackerterrassen. Hier wurden Kartoffeln im Schatten der Kastanienbäume angebaut. Wo diese auf Teneriffa eher nicht zu erwartende Landschaft unten aufhört, erreichen wir die Wein-
berge und haben damit alle drei zusammen, die hier im Acentejo so typisch sind und bei Weinfesten zusammen angeboten werden: Papas, Castañas y Vino.
Es heißt, die Mönche, die die Eroberer begleiteten, hätten den Wein in diese Gegend gebracht. Die Gemarkung Tacoronte-Acentejo, in der Nähe der alten Inselhauptstadt La Laguna und ihrer Klöster gelegen, ist jedenfalls die älteste Weinbauregion Teneriffas. Weinbau ohne Kastanien ging gar nicht. Der Kastanienbaum ist nämlich viel mehr als nur ein guter Nahrungslieferant, dessen frische Blätter man zudem dem Vieh verfüttern konnte. Das vertrocknete Herbstlaub diente als Streu im Stall und später als Dünger, und die Früchte, die den Leuten zu klein für den eigenen Verzehr waren, stellten ein gutes Kraftfutter für die Ziegen dar. Am wichtigsten aber war das Holz. Gut gezogene Bäume lieferten die Bretter für die Herstellung der Weinfässer. Anfangs nahm man sogar Kastanienschösslinge anstelle von Eisen für die Fassreifen. Schösslinge waren auch der Rohstoff für die Produktion langer Späne, aus denen Körbe geflochten wurden. Unter anderem die Körbe, in denen man die reifen Trauben zur Kelter trug. Die Dreschschlitten und andere bäuerliche Werkzeuge, von denen manche heutzutage die Wände von Restaurants zieren, waren ebenfalls aus Kastanienholz. Ohne den Kastanienbaum hätte die Erschließung der Inseln nicht so stattgefunden. Es wäre viel, viel mühseliger gewesen. Die Kastanie war ein Universalwerkstoff-Lieferant. Allein in dem Gebiet von La Victoria zählt man mehr als 5600 Kastanienbäume. Es gibt nicht „die Kastanie“. Rund zwanzig verschiedene Sorten sind allein auf Teneriffa bekannt. Eine heißt „Polegre“, was eigentlich ein menschlicher Familienname ist. Ihre wohlschmeckenden Früchte sind sehr begehrt und vor allem leicht zu schälen. Eine andere Sorte heißt „Culo chico“ (kleiner Arsch), wohl eine Anspielung auf die rundliche Form. Auch die „Picuda“ gibt es häufig, obwohl ihre Kapsel unangenehm stachelig ist. Ihre Früchte sind die Piekser wert.
Jetzt in der Vorweihnachtszeit sind Kastanienbäume und Weinberge längst abgeerntet, und der neue Wein kann seit dem Andreastag getrunken werden. Und genau jetzt entfaltet das Weinlaub noch einmal seine ganze Pracht – leuchtend gelb, rot oder bräunlich vor dem unveränderten Grün der Kastanienbäume und dem intensiven Himmelsblau. Die klare Herbstsonne bringt die Landschaft zum Strahlen. Und in der Ferne zeichnet sich der Teide als graublaue Silhouette ab. Wenn man an solch einem Tag auf der Nordautobahn unterwegs ist, lohnt sich ein spontaner Abstecher in die Berge. Die Wegweiser „Paisaje de Viñedos y Castaños“ weisen den Weg.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top
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Tel. 922 383 450
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