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Lebensräume. Orte mit Lebewesen. Orte, an denen Leben stattfindet. Hier und jetzt. Vielfalt, die sich entfaltet und zugleich – auf Zeit – beständig ist. Die Kanarischen Inseln sind reich an Lebensräumen. Der Fachmann spricht von Öko­system, wenn er die Beziehungen zwischen den Lebewesen betrachtet, oder von Biotop, wenn er die unbelebte Natur dieses Raumes zusätzlich mit im Blick hat. Solche Vielfalt und rasche Wechsel von einem Biotop zum anderen wie hier sind auf dem Festland eher selten. Ein großer Reiz unserer Inseln liegt genau darin. Die Grenzen zwischen benachbarten Systemen sind fließend und durchlässig. Daraus entsteht speziell in diesen Regionen eine besonders hohe Artenvielfalt. Hier begegnen sich nicht nur Lebewesen von der jeweils anderen Seite, hier leben oftmals auch solche, die genau diese Übergangszonen als Biotop brauchen. Wenn wir während einer Wanderung den Spritzwasserbereich an der Küste mit seinen Klippen und kleinen Tümpeln erreichen, ist der Übergang zwischen Meer und Festland besonders augenfällig. Hier auf Entdeckungstour zu ge­hen, ist nicht nur mit Kindern spannend. Dabei sollte man allerdings nie vergessen, dass manchmal scheinbar aus dem Nichts höhere, gefährlichere Wellen auftauchen können.

Das Negative gleich vorweg: Der Reichtum unserer Küsten verschwindet leider dort, wo bei Flut das Wasser mehr oder weniger wild gurgelt und sprüht und bei Niedrigwasser die Son­ne die dunklen Klippen aufheizt, bis alles, was sich nicht schützen kann, verbrannt und vertrocknet ist. Wer hier (über-)lebt, ist spezialisiert, kann nass und trocken, kühl und heiß. Auf manche Veränderungen haben diese Könner jedoch keine Antwort. Wenn zum Beispiel die durchschnittliche Wassertemperatur etwas ansteigt oder bestimmte Stoffe zunehmen, die es früher weniger oder nicht gab.

Es ist noch nicht lange her, dass es in den Klippenlandschaften der Nordküste Teneriffas mehrere Arten Seeane­monen und Einsiedlerkrebse gab. Vor Seeigeln musste man sich in Acht nehmen, nicht den langstacheligen Diademseeigeln, die seit einigen Jahren ganze Unterwasserriffe kahl fressen, sondern solchen mit kurzen Stacheln, die mit ihrer Umgebung im Gleichgewicht standen und dicht an der Wasseroberfläche lebten. Dass sie verschwunden sind, kommt zwar den Badenden entgegen, die sich nicht mehr an deren Stacheln verletzen, zeigt aber deutlich, dass die Bedingungen nicht mehr die gleichen sind. Meeresbiologen führen die Veränderung vor allem auf die Zunahme von Abwässern zurück, die, selbst wenn sie geklärt ins Meer geleitet werden, diverse Stoffe enthalten, die dort ursprünglich nicht oder wesentlich seltener waren. Unstrittig ist auch, dass der Ozean hier im Sommer stärker erwärmt wird, länger warm bleibt und im Winter weniger auskühlt. Im Wes­ten des Archipels tauchen bereits Arten auf, die bisher nur im warmen Wasser der Karibik lebten.

Scheinbar wenig beeinflusst davon sind bisher die Bestände der Roten Klippenkrabbe (Grapsus adscensionis), von den Canarios als Cangrejo Moro oder Cangrejo Rojo bezeichnet. Sie bevorzugen den Gezeitenbereich der Klippen und sind weit verbreitet. Wer nach der Wanderung durch den Barranco die Playa de Masca erreicht und einige Zeit auf das Boot warten muss, hat leicht Gelegenheit, diese auffälligen Pflanzenfresser der Küstenzone zu beobachten. Denn wenn es warm und sonnig ist, zeigen sie sich als bestens an das Leben zwischen den Welten unter und über Wasser angepasst. Bei bedecktem Himmel bleiben sie vorzugsweise unter Wasser und suchen in bis zu acht Metern Tiefe ihre Nahrung: Algen und totes Material. Am Strand von Masca scheint häufig die Sonne und lockt vor allem größere Felsenkrabben auf die Steine. Kleinere vertragen die Sonne nicht so gut. Lange, sehr lange sitzen sie nahezu bewegungslos dort. Man könnte sie leicht übersehen, wären da nicht ihre leuchtend roten Beine. Allerdings gibt es auch Exemplare mit dunklen Beinen, meistens sind sie noch nicht ausgewachsen. Erwachsene Tiere mit dunklen Beinen sind allerdings gar nicht so selten. Auf dem dunklen Basalt scheinen sie dadurch besser getarnt zu sein, möglicherweise eine Anpassung an ihre Umgebung.

Alle Krebstiere, zu diesen gehören unsere Krabben, atmen wie Fische durch Kiemen und sind auf Wasser angewiesen. Ein Sonnenbad, wie es bei Felsenkrabben üblich ist, würden allerdings Fische kaum überstehen. Ohne Wasser an den Kiemen ersticken sie. Anders die Krebse. Ihr Rückenpanzer bildet entlang jeder Körperseite eine Höhle, in der sie einen Wasservorrat mit sich tragen, wenn sie an Land gehen. In diesen Vorrat ragen ihre Kiemen und können dem Wasser unentwegt Sauerstoff entnehmen. Je größer die Krabbe, desto größer der Wasservorrat und desto länger können sie an Land bleiben. Deswegen sitzen die Kleinen nur kurz in der Sonne.

Sie halten Abstand vom Beobachter, verstecken sich gerne im toten Winkel. Dabei unterscheiden sie sehr genau, ob sich ein größeres Lebewesen oder nur eine Welle nähert. Wellen können ihnen nichts anhaben. Sie bleiben an ihrem Platz. Es heißt, sie seien zu kräftig, um durch Wellen von den Felsen gerissen zu werden. In der Tat sind die Muskeln wirbelloser Tiere deutlich stärker und ausdauernder als die der Wirbeltiere. Aber hier walten keine rohen Kräfte, sondern (Bio-) Technologie. Die Beine der Felsenkrabben sind nämlich sichtbar anders gebaut als die anderer Krebse. Bei letzteren sind alle Glieder im Querschnitt einigermaßen rund. Nicht so bei Felsenkrabben. Bei ihnen sind die körpernahen Beinglieder breit, flach und bauchseitig etwas gewölbt – so wie ein Flugzeugflügel im Querschnitt. Nur dass bei diesem die Wölbung nach oben zeigt und dafür sorgt, dass anströmende Luft den Flügel hebt. Bei Felsenkrabben zieht hingegen das vorbeiströmende Wasser die Beine bauchwärts und damit auch Richtung Untergrund, je stärker die Strömung, desto stärker der Zug zum Felsen. Rundbeinige Krebse wie die Nordseekrabbe würden durch die Wellen leicht vom Felsen weggerissen, Felsenkrabben hingegen profitieren dank ihres speziellen Kö­r­per­baus von der Kraft des Wassers. Reine Formsache.

Michael von Levetzow

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