Deutsch-Kanarische Korrespondenz aus Corralejo
Wer, wie ich, derzeit im schönen Corralejo an der Nordspitze Fuerteventuras u.a. auch seine Imagination vom nahen Afrika hat und versucht, die minimale Distanz von nur rund 100 km über den Atlantik hinweg zu denken, dem kommen zwangsläufig die legendären Seefahrten und Seefahrer in den Sinn.
Bezeichnete der Mallorquiner Angelino Dulcert 1339 das erste Mal die Insel konkret: „La forte ventura“, das starke Abenteuer. Nomen est omen! Und so schwingen in der Entdeckungsgeschichte der Kanaren insgesamt mit: Mut, Abenteuer, seefahrerisches Geschick, Ausdauer, Hoffung und Verheißung – und Suche nach dem nautischen Glück.
Da passt eine Information, die mir ein tatendurstiger junger deutscher Forscher gab, gut hinein: 2015 soll hier, wo ich gerade stehe, ein steinzeitliches Schilfboot „vorbeikommen“, das ein ewiges kanarisches Thema, „Woher kommen wir?“, erheblich aktualisieren wird.
Aber der Reihe nach…
Wie kamen kulturelle Ähnlichkeiten auf den Inseln mit anderen Territorien über große Distanzen hinweg zustande?
Diese Frage betrifft im Kern die ewigen archäologischen Diskussionen auf den Kanaren. Denn, dass es solche Ähnlichkeiten in vielen Bereichen gibt, weist auf die Verbindungen der Kulturen, auch über größte Entfernungen, hin (via Cromagnon-Nachweisen, Kulte, Religionen, Werkzeuge, Bildzeichen, Schriftzeichen u.a.m.) Reichlich Mythen, Theorien und Hypothesen bevölkern ganze Annalen der terrestrischen Archäologie der Kanaren. Nicht allzu viel ist aus dieser weit zurückliegenden Zeit bekannt, weil nicht aufgezeichnet oder noch nicht erforscht. Die nautische Archäologie, d.h. die Ergänzung der terrestrischen von der Seefahrtsseite her. Das ist deshalb ein Gebiet, von dem auch für die Theorien der Kanarenbesiedlung noch viel erwartet werden kann. Harald Braem hat in seinem bemerkenswertem Buch „Auf den Spuren der Ureinwohner“ (Zech-Verlag, 2008) die eigentlichen sechs Besiedlungstheorien für die Kanaren überschaubar deutlich gemacht (Atlantis, Inselberber, portugiesische Muschelsammler, Nordwesteuropa, Amerika, atlantische Westkultur). Die dominante wissenschaftliche Meinung zu diesem Thema lautet aber heute immer noch, dass die kanarischen Ureinwohner passiv durch die Phönizier im 8. Jahrhundert vor Chr. „eingeschleppt“ wurden. Braem weist deshalb zugleich mit Recht aber auch auf die große Vertrautheit der Altkanarier mit Wasser, Schwimmen, Schiffen, Booten, Einbäumen oder Ankern hin (auch u.a. dargestellt in diversen Felsmalereien). Der weltweit renommierte norwegische Experimentalarchäologe Thor Heyerdahl (1914-2002) wiederum suchte mit seinen nach altägyptischen Vorbildern nachkonstruierten Papyrusbooten Ra I und Ra II (Ra = Schiff) und seinen atlantische Expeditionen 1970 von Safi (Marokko) aus, Richtung Mittel- und Südamerika, den Beweis zu erbringen, dass fremde Völker durchaus in Lage gewesen seien, in Vorzeiten Ozeane weiträumig zu überqueren und somit ihre Kulturen weit „in der Welt“ zu verbreiten. Er erreichte schließlich mit der zweiten Expedition wirklich Barbados (Kleine Antillen). Die Kanarischen Inseln erreichte er allerdings… nicht!
Ein steinzeitliches Schilfboot wird 2015 Kurs auf die Kanaren nehmen: die ABORA-V
Aber Forscher, vor allem experimentell mutige, gibt es immer wieder… Und nun soll es 2015 quasi ein Déjà-vu geben. Eins auch, das im Gedenken an die Bemühungen von Tor Heyerdahl bereits 2014 beginnt (an seinem 100. Todestag). Eins, dass erneut von Safi, Marokko, ausgehen, aber dieses Mal in Güímar (Teneriffa) –sic! – (glücklich) enden soll. Und ein „getopptes“ noch dazu: Denn dieses Mal soll/
muss es gelingen, mit dem Passat und mit dem Kanarenstrom nautisch klarzukommen, was trotz Distanz und landläufiger angeblicher Einfachheit doch nicht das Leichteste ist.
Eine Expedition also, die endgültig beweisen will, dass die Inseln bereits seit Ende der Jungsteinzeit in mehreren Wellen aus dem Norden und Osten besiedelt worden sind. Damit wäre eine Theorieflanke, die Heyerdahl damals nicht schließen konnte, geschlossen.
Wer macht so etwas, wer hat den Mut dazu? Es ist Dominique Görlitz, 46, diplomierter Biologe, ehemaliger Gymnasiallehrer, heute selbstständiger Experimentalarchäologe, gegenwärtig Promovant an der Universität Erlangen und seit längerem Mitglied des renommierten „Explorers-Club“, New York – Entdecker, Experimentator und Seefahrer aus Leidenschaft. Sein Vorbild, mit dem er noch zu Lebzeiten befreundet war, wie sollte es anders sein: Thor Heyerdahl. Görlitz’ Schilfboote sind, anders als die Heyerdahls, nach präziser und aufwendiger Auswertung nunmehr jungsteinzeitlicher Felsbilder konstruiert. „Experimentelle Archäologie“ ist allerdings auch heute noch im wissenschaftlichen Establishment ein ärchologisches rotes Tuch, leider. Was ihm aber nichts ausmacht. Görlitz ist kein Springinsfeld. Heinrich Schlieman, Mamoun Fansa, Marcus Junkelmann oder eben Thor Heyerdahl… stehen an seiner Seite. Er besitzt fundiertes Erfahrungswissen, Mut und Organisationstalent, die seinen Experimenten Verantwortung fürs Ganze, Sinn fürs Detail und Richtung verleihen. Seine wissenschaftlichen Forschungsgebiete sind u.a. auch Invasionsbiologie und Geobotanik. Interdisziplinäres Denken ist ihm in exzellenter Art und Weise eigen. Perspektive versperrende isolationistische Ansätze vieler Wissenschaftsbereiche kann er somit bei seinen Forschungen ausklammern. Und das macht es eigentlich aus! Davon leitet er die Grundüberzeugung für seine nautischen Kraftakte ab. Auch die „V“ am Expeditionsnamen verweist auf Vorgänger und somit Riesenerfahrung. Seit 1999 bis 2007: „ABORA-I bis ABORA-III“– alles Schilfbootexpeditionen mit größten nautischen Herausforderungen auf Atlantik bzw. Mittelmeer. Kühne Experimente, wichtige Ergebnisse, viele Versuche, auch missglückte, dabei… Und bevor ABORA-V startet, wollen sich Forscher Görlitz und Crew noch mit ABORA-IV auf die Reise von New York Richtung Spanien begeben. Das ist dann praktisch die optimistische Wiederholung der im Juli 2007 leider wegen heftiger Stürme abgebrochenen ABORA-III-Tour…
ABORA – Gottheit der Guanchen und eine Botschaft für die Menschheit
Immer noch in Corralejo, schaue ich hinüber zur Insel Lobos. Wenn alles gut geht, könnte also hier im Juli 2015 (nach heutigem Projektstand) die ABORA-V vorbeisegeln, sie hätte die ersten beiden Kanareninseln damit erreicht. Und Abora, die Gottheit der Guanchen, die nach der Mythologie die Sterne in Bewegung setzt und beim Sonnenuntergang Himmel und Meer verschmelzen lässt, hätte dann etwas Gutes getan. Was nichts anderes bedeuten soll, als dass Menschen bei ihren Reisen übers Meer beschützt werden.
Fürs Gelingen braucht Dominique Görlitz nicht nur seine eigene Kraft, er ist auf viele wissenschaftliche Förderer, Sponsoren und Goodwills aus aller Welt und natürlich auch auf Unterstützung von den Kanaren selbst angewiesen. Denn nichts ist klarer als dies: Gelingt ABORA-V, dann ist dies ein neues und wichtiges wissenschaftliches Argument mehr dafür, dass die Kanarischen Inseln ein außerordentlich vielfältiger Kulturraum sind, eine Art Konservierungsgebiet für Architektur, Sprachen und alte Kulturen.
Von León W. Schönau
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