Lichtblicke
In Max Frischs „Gantenbein“ spielt einer blind. Er kauft sich eine dunkle Brille, eine Armbinde und einen Blindenstock und genießt ein neues Leben. Ein Leben, in dem sich nun auch die anderen, die ihn für blind halten, ganz anders verhalten, als wenn sie sich gesehen und beobachtet wüssten.
Ich finde mich in dieser Geschichte wieder und Sie sich vielleicht auch. Spielen wir oft nicht nur Rollen vor den anderen? Manchmal auch vor den vertrautesten Menschen und vor uns selbst. Bei den Kindern ist das noch selbstvergessenes Spiel. Die Signalkelle in der Hand verleiht die Macht des Stationsvorstehers und der Indianerschmuck die Würde des siegreichen Häuptlings. Später wird das alles ernster. Manchmal haben wir den Wunsch, auszubrechen aus unserer Alltäglichkeit und uns oft selber loszuwerden. Soziologen und Werbefachleute wissen, welche Bedeutung der Rolle zukommt, die man vor Nachbarn und Kolleginnen und Kollegen spielen möchte. Wir sind freundlich, obwohl wir den anderen sonst wo hinwünschen würden; und wir schlagen ohne Überzeugung mit der Faust auf den Tisch, weil wir meinen, um unserer Autorität willen den Empörten spielen zu müssen. Ehen zerbrechen nicht selten daran, dass man einander anfangs Rollen vorgespielt hat, die sich später nicht durchhalten lassen. Es gibt Menschen, die sich in Krankheiten flüchten, um in dieser Rolle von sich selbst und den anderen anerkannt zu werden. – Wo sind wir eigentlich wir selbst, und wo beginnt unser Rollenspiel als untadeliger Ehemann, Amtsträger, ehrbare Bürgerin? Viele spielen ihre Rolle, ohne zu wagen, sie selbst zu sein. Ihre geheimsten Gedanken, ihr wahres Ich zu offenbaren, fürchten sie sich. Sie möchten lieber unerkannt bleiben mit ihren Schwächen, Fehlern, Lücken, wie unter dem Inkognito von Menschen, die etwas zu verbergen haben.
Auch vor Gott spielen wir unsere Rolle. Man erhebt gegen Gott keine grundsätzlichen Einwände, man ahnt vielleicht sogar, dass man ihn nötig hat. Weil es vielleicht als ausgemacht gilt: Besser nix als gar nix. So bietet man ihm auch etwas an: Eine christliche Weltanschauung, bürgerliche Moral, Spenden, die 10 Gebote werden im Prinzip bejaht. Und das alles, um auf dem Konto Religion für alle Fälle auch etwas zu haben. Was macht es so anstrengend, sich Tag für Tag und durch die Jahre hindurch an Gott zu halten? Weil Gott nicht so ist, wie man ihn sich wünscht? Oder ist er zu weit weg von dieser Welt- zu wenig greifbar? Oder liegt es daran, dass christliche Werte in unserer Welt zwar gefragt sind, aber immer weniger vorkommen? Es ist heute akzeptiert, nur für sich da zu sein. Es setzt sich durch, dass der Ehrliche der Dumme ist, Steuerhinterziehung ein Kavaliersdelikt, Geiz immer noch geil ist und jeder sich selbst der Nächste? Leben als Christ wird gerne gesehen, doch ist man da nicht etwas zu naiv? Kommt man mit seinen möglicherweise antiquierten Vorstellungen durch die heutige Gesellschaft?
„Herr, du erforschest mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe, so weißt du es, du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest“. Das steht im 139. Psalm. Ist es erschreckend, plötzlich durchschaut zu sein? Das mag vielleicht so sein, eine Art heilsames Erschrecken. Denn der Gott, der das tut, steht nicht mit schadenfrohem Grinsen vor uns, sondern als Vater Jesu Christi, der nach seinen Kindern ruft. Wo das geschieht, da dürfen wir anfangen, wir selbst zu sein, da dürfen die Hüllen der Verborgenheit fallen. Da sind wir akzeptiert.
Ihr
Wolfgang Gerth
Evangelische Kirche
Teneriffa Nord
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