Unauffällig
Er hat was, der Weg nach Talavera. Ein bisschen ähnelt er dem Risco de Teno, ist aber leichter. Auf manchen Abschnitten verlangt sein unebenes Pflaster unsere ganze Aufmerksamkeit, sodass wir kaum die Details am Wegrand wahrnehmen können, während wir rasch an Höhe gewinnen. Hier nimmt man sich Zeit, um nicht zu stolpern. Getreu der alten Bergsteigerregel „entweder gehen oder schauen“ lohnt es sich, ab und zu stehen zu bleiben und die Felsen genauer zu betrachten.
Der alte Bauernweg beginnt jenseits der Bananenplantagen. Schon bei der Anfahrt über die Umgehungsstraße von Los Silos fällt auf dem Steilhang ein kleines Gebäude auf, das an eine Kapelle erinnert, aber nur Teil der Anlagen der Galerie El Caudal ist. Dort wird das Wasser auf verschiedene Leitungen verteilt. Rechts und links des Weges finden wir die typischen Pflanzen des Sukkulentenbuschs, der nicht nur hier diese Höhenstufe prägt. Tabaiba dulce vor allem und zahlreiche Opuntien. Erstere sind Endemiten, echte Canarios, während Letztere sehr durchsetzungsfähige Einwanderer aus Amerika sind. Beide speichern Wasser in ihren Stämmen und überstehen deswegen die sommerlichen Dürreperioden gut. An ihren grünen, herabhängenden Fäden gleichenden Blättern sind die Balos (Plocama pendula) leicht zu erkennen. Und zwischen allem winden sich die Ranken der giftigen Seidenpflanzen, die man hier wegen ihrer an Stierhörner erinnernden Früchte „Cornical“ nennt.
Richtig interessant wird es aber erst bei der Felswand, auf die wir oberhalb des Wasserhäuschens treffen. Waren die Sträucher entlang des Wegs unübersehbar, gilt es jetzt, Kleineres zu entdecken. Unten in der Wand sind kleine Höhlen mit sandigem Boden. Vermutlich laufen wir alle achtlos daran vorbei. Sie sind ja gerade einmal kniehoch, sozusagen Massenware auf dieser Insel, die häufig einem Stein gewordenen Schweizer Käse gleicht. Man muss sich nicht sehr tief bücken, um in ihrem Sandboden – dort wo es nie regnet und immer staubtrocken ist – kleine auffällige Trichter zu entdecken. Und noch etwas fällt auf: Die Böschungen haben in jedem Trichter die gleiche Neigung. Zufall? Bestimmt nicht! Im lockeren Sand verborgen lauert unten in jedem Trichter ein Ameisenlöwe. Nur seine im Verhältnis zu seiner geringen Körpergröße mächtigen Kieferzangen ragen dort manchmal etwas aus dem Sand hervor. Für unsere Augen sind sie zu klein, um sie zwischen den Sandkörnern zu entdecken. Wenn wir aber geduldig beobachten, kann es sein, dass wir dort unten eine kleine Bewegung wahrnehmen können, wenn der Löwe seine Position verändert. Er ist die Larve eines Insekts, das wie eine Kreuzung aus einer Libelle und einer Florfliege aussieht, und lauert in seinem Trichter auf Insekten, die über den Trichterrand laufen und dann zu ihm hinunterrutschen müssen, weil es auf diesen schiefen Wänden keinen Halt gibt. Das passiert nicht oft, aber Ameisenlöwen können lange fasten. Lässt man einen kleinen Käfer in solch einen Trichter fallen, kann man zusehen, wie der Ameisenlöwe zupackt und die Beute zu sich in den Sand zieht.
Nicht gleich weitergehen! Die Höhle des Ameisenlöwen ist nur eine Orientierungshilfe, um etwas ganz anderes, ebenso unauffälliges zu finden. In Augenhöhe können wir auf dem Felsen seltsame, mehr oder weniger grau erscheinende Gebilde entdecken, die an heraushängende Wurzeln erinnern. Weiter nach oben gibt es mehr und größere davon. Ein kleiner Felskopf noch höher ist von ihnen weitgehend bedeckt. Hier wachsen Orchillas, Färberflechten. Fünfhundert Tonnen davon ernteten Sammler jährlich allein an Teneriffas Nordküsten, berichtete José Viera y Clavijo 1799 in seinem Diccionario de historia natural de las Islas Canarias. Das kleine El Hierro lieferte sogar 800 Tonnen.
Der angesehene Chronist erklärte auch gleich, was diese Flechten so wertvoll machte. Aus ihnen ließen sich nämlich in einem aufwendigen Verfahren begehrte Farbstoffe gewinnen. Nach dem Trocknen und anschließendem Pulverisieren bereitete man zusammen mit etwas Kalk und Urin eine Paste, die in einem verschließbaren Glasgefäß aufbewahrt wurde und alle zwei Stunden umgerührt werden musste. Drei Tage später trat allmählich eine purpurne Verfärbung ein. Nach acht Tagen hatte man dann eine rotviolette Masse, die man in Wasser langsam erhitzte, um am Ende einen leuchtend blauen Farbstoff zu erhalten.
Man konnte damit Wolle färben oder durch Bläuen die Wäsche vor dem Vergilben schützen. Auch Wein, Likör und Kosmetika bekamen dank dieses Zusatzes ihre begehrte Farbe. Vor allem die Holländer importierten große Mengen der Färberflechte und versuchten, die Herstellungsdetails geheim zu halten und sich ein Monopol zu sichern. Das ist längst Geschichte. Und seit man künstlich Ammoniak herstellen kann, der ein wichtiger Wirkstoff in diesem Herstellungsprozess ist, verzichtet man auch auf die Zugabe von Urin als indirekte Ammoniakquelle. Kanarische Färberflechte wird heute noch auf Lanzarote geerntet. Dabei werden aber die unteren Teile der Flechte am Felsen stehen gelassen, damit sie nachwächst. Bis zur Erntereife braucht so eine Flechte immerhin mindestens fünf Jahre und feuchten Seewind. Deshalb wächst sie auf den Kanaren nur an den Nordküsten; denn dort erreicht sie der Nordostpassat.
Wer von uns etwas Chemieunterricht genossen hat, ist dem Farbstoff bestimmt begegnet. Gibt man ihn in eine Säure, färbt er sich von blau nach rot. Fügt man genug Natronlauge hinzu, wird er wieder blau. Die Holländer nannten ihn „Lackmus“.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top
mico@tenerife-on-top.de
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