» Ungewöhnliches Jubiläum «
Teneriffas antikes Wegenetz umfasst mehrere Tausend Kilometer. Seine genaue Länge weiß niemand. Zahlreiche Wege gibt es schon seit rund 2000 Jahren, einige wahrscheinlich sogar ein paar Hundert Jahre länger.
Sie gehen auf die Ureinwohner zurück, die sich in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende hier niederließen. Mit der Unterwerfung der Guanchen und der Inbesitznahme der Insel durch die Spanier kamen zahlreiche neue Pfade, Wege und auch der eine oder andere Camino Real hinzu. Dennoch war Teneriffa die meiste Zeit keine Wanderinsel. Als sich in Europa längst wohlhabende Bürger auf Schusters Rappen anschickten, die Welt zu erkunden, Städte zu besuchen und Berge zu ersteigen, einfach nur weil diese da waren, ging man zwar auch auf Teneriffa zu Fuß. Aber nicht aus Neugier und Abenteuerlust, sondern weil man musste. Bis der Tourismus hier wirklich anlangte, sollten noch gute 100 Jahre ins Land gehen, bis zu den Anfängen des Wanderns und Bergsteigens um seiner selbst willen brauchte es hier weitere 50 Jahre. 1955 erstiegen zwei Kletterer eher zufällig den Roque de Ucanca – und niemand nahm Notiz davon. Die beiden waren nicht von hier. Erst elf Jahre später fanden relativ unerfahrene Kletteranfänger des kurz zuvor gegründeten „Grupo Montañero de Tenerife“ auf dem Gipfel dieses Felsens einen von den Erstbesteigern dort eingeschlagenen Felshaken. Sie waren die Zweiten, die dort oben standen und gaben dem Felsmassiv wegen seines markanten Aussehens den Namen „La Catedral“. Bis heute noch fasziniert „La Catedral“ jeden traditionellen Kletterer mit ihrer Gestalt und ihren schönen Routen.
Rauls Anruf kam Mitte Oktober, wenige Tage, nachdem wir uns kennengelernt hatten. „Hast Du Lust, mit uns die Catedral zu klettern? Das ist ein Jubiläum, zu dem die Pioniere von damals auch kommen.“ Ich hatte Zeit. Selbst wenn ich keine gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich Wichtigeres verschoben. Zu solch einer Gelegenheit habe ich immer Lust.
Wir trafen uns bei den Roques de García. La Catedral steht etwas abgesetzt von diesen unten in der Ucanca-Ebene. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich alle begrüßt hatten, vor allem die „pioneros“ von einst waren sich ihrer Rolle sehr gewiss und nahmen sich Zeit, erzählten, wie es damals war, rissen Witze wie einst und fanden sich immer wieder in Grüppchen zusammen. Von den rund 40 anwesenden Kletterern stellten sie knapp die Hälfte. 60 bis über 70 Jahre alt, wirkten die meisten von ihnen ziemlich fit. Zahlreiche jüngere taten gut daran, sich im Hintergrund zu halten. Beim Klettern zeigte sich schnell, dass die Erfahrung der Alten die größere Kraft und Elastizität der Jungen weitgehend egalisierte. Hier standen alte Männer und strahlten die Selbstsicherheit und Gelassenheit aus, die man bekommt, wenn man jahrzehntelang erfolgreich geklettert ist.
Wir standen unter dem Einstieg. Die erste Seillänge, gut einsehbar, dürfte keine Probleme bereiten. Ich machte das, was ich sonst auch mache, wenn ich warten muss, bis ich endlich an die Reihe komme. Ich hielt nach anderen – tatsächlichen oder denkbaren – Routen Ausschau. Jeder Kletterer macht das, wenn er an einen Felsen kommt. Eine luftige, leicht gestufte Kante links von uns erregte meine Aufmerksamkeit. Die würde ich gerne einmal klettern. „Raul, wie schwer ist die Kante da drüben?“ Erstaunt blickte er mich an. „Welche Kante?“ „Die da.“ „Weiß ich nicht. Die ist noch nie jemand geklettert.“ „Aber richtig schwer ist die wohl nicht.“ „Nein. Aber wir klettern hier bewusst nicht alles. Wir wollen nicht so viele Haken in der Catedral, sonst kommen zu viele Leute.“ Es ist hier nicht anders als in Deutschland; jede Kletterregion hat ihre eigene Etikette, und man tut gut daran, nicht gegen diese zu verstoßen.
Der Weg der Erstersteiger über die Südseite ist für heutige Kletterer eher leicht und mit 120 Höhenmetern auch gut überschaubar. Luftig und teilweise spärlich abgesichert ist die Kletterei nichts für Ängstliche. Nach oben hinaus wird es etwas steiler. Griffe und Tritte sind ausreichend vorhanden. Und dieser helle, leicht rötliche Fels, Phonolith, lässt das Klettererherz höher schlagen. Der ist vom Feinsten. Mit jedem Höhenmeter ändert sich die Aussicht auf die umliegenden Felsen sowie die Guajara und den Teide im Hintergrund. Ich bin ja oft im Nationalpark unterwegs und noch öfter von den besonderen Ausblicken fasziniert. Dies hier gehört zum Besten.
Als ich oben am Gipfel ausstieg, hatten sich schon viele der Kameraden wieder nach unten auf den Weg gemacht. Für 40 Menschen wäre es hier auch zu eng. Ein Grüppchen blieb für das Gipfelfoto. Eine spanische Tageszeitung textete dazu den Bildtitel: „Die Alten am Gipfel.“ Da stand ich zufällig in der ersten Reihe. Hier oben zu stehen hat wenig mit dem Alter zu tun, aber viel mit dem Leben.
Zweimal seilt man sich vom Gipfel ein längeres Stück ab, einen Abschnitt klettert man ungesichert abwärts. Niemand ist zu Schaden gekommen. Alle beherrschten das Gelände sicher. Irgendwann fragte ich einen Freund: „49 Jahre sind ja eine eigenartige Zahl für ein Jubiläum. Macht Ihr das jedes Jahr?“ „Nein. Das ist das erste Mal. Aber wenn wir jetzt nicht damit anfangen, sind bald einige von uns nicht mehr da.“ Seitdem sehe ich die Einladung an mich mit anderen Augen.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top
Tel. 922 383 450
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