Wandern und entdecken


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»Eras«

eno Alto. Die Gruppe, mit der ich über den Risco heraufgestiegen bin, um von hier entlang der Cumbre de Carrizal den Baracán und kurz danach den Paso de Tabaiba zu erreichen, ist zügig vorangekommen.

Wir haben also Zeit, zur Einkehr in die Bar Los Bailaderos mit ihren freundlichen Wirtsleuten, gu-tem Käse und kräftigem Landwein ist es noch zu früh. Ohne Einkehr weiterzugehen, wäre aber auch schade. Also schiebe ich einen kleinen Abstecher über die Hochebene von Teno Alto ein, wo noch einige ortstypische Relikte aus der bäuerlichen Vergangenheit dieser kargen Landschaft zu entdecken sind.

Gleich am Ortsausgang stoßen wir auf die Reste eines verfallenen Wohnhauses neben einigen benachbarten, künstlich angelegten Höhlen. Nach ihrer in Resten vorhandenen Inneneinrichtung waren diese einmal Viehställe. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie sind nämlich viel älter als die Ruine nebenan. Die ersten Bewohner des Örtchens haben sie in das Gestein geschlagen und für lange Zeit selbst bewohnt. Das Land, das sie bewirtschafteten, gehörte reichen Familien in Buenavista del Norte. Sie selbst waren fast wie Leibeigene in die Wildnis geschickt worden, mussten selbst zusehen, wie sie sich durchbrachten und das fruchtbare Land urbar machten. Bei dem stetig von Nordost blasenden kühlen und böigen Wind hätten sie dort ohne die selbst gegrabenen, sich nach Lee öffnenden Höhlen nicht überleben können. Nach und nach wurden die Hänge terrassiert und Äcker angelegt, auf denen Kartoffeln, Gemüse und Getreide, vorzugsweise Weizen und Roggen, angebaut wurden. Als die Erträge langsam gesichert und ausreichend für alle waren, konnten die Wohnhäuser vor den Höhlen errichtet werden, die seitdem als Stallungen und Lagerräume dienten.

Während wir die Straße entlanggehen, entdecken wir immer wieder zusätzlich zu den Terrassenmauern kleine Gemäuer, die einen Sitzstein an zwei Seiten etwa schulterhoch umfassen und nach Nordosten abschirmen. Sie dienten den Ziegenhirten als Windschutz. Denn gerade hier bringt der Passat unentwegt Wolken heran, die sich, kaum dass sie den Höhenkamm überquert haben, rasch auflösen. Dabei entwickelt er sich immer wieder zum regelrechten Föhnsturm, dem man gerne ausweicht.

Wenig später erreichen wir ein größeres Gemäuer: Ein kreisförmiger, weitgehend gepflasterter Platz ist von einer Ringmauer umgeben. Auch wenn manche Esoteriker solche Anlagen als „Kraftorte“ erkennen, an denen frühere und angeblich wissendere Menschen Besonderes taten und erfuhren (was man finden will, findet man auch), es hilft nichts: Solche Plätze, von denen auf der Insel noch viele erhalten sind, waren profane Dreschplätze, „Era“ genannt, die notwendigerweise dort angelegt wurden, wo das Landschaftsprofil dies zuließ und die Getreidefelder nah benachbart waren. Denn die Ernte musste von den Menschen bis in die Täler getragen werden. Zweckmäßigerweise wurde deshalb das Getreide an Ort und Stelle vor dem Transport gedroschen und nur die Körner getragen. Natürlich dienten solche Plätze auch manchmal zum Tanzen und Feiern. „No te metes en las pajas …“, „fall nicht ins

Stroh …“, heißt es in einem alten Lied, das darauf Bezug nimmt. Die Eras von Teno Alto sind aber durch ihre Bauweise etwas ganz Besonderes. Während Eras normalerweise von einem Steinring umgeben sind, auf dem man gut sitzen kann und der verhindern sollte, dass das Getreide nach außen rutschte, besitzen sie hier nämlich auf ihrer Nordostseite, also dem Wind zugewandt, eine hohe Mauer als Windschutz. Der Sturm könnte sonst die Ähren vor dem Dreschen fortwehen, und alle Arbeit wäre vergeblich gewesen. Seltsamerweise weist aber jede dieser Windschutzmauern ein großes Fenster mit einem Querbalken im oberen Drittel auf, durch das der Wind umso stärker herein peitscht. Vor dem Dreschen haben die Bauern zunächst diese Fenster sehr dicht mit den besenartigen Ästen der Baumheide verstopft, dann auf dem Platz mit Tieren und dem Dreschschlitten die Körner aus den Ähren gedrückt und anschließend alles schön innen vor das Fenster geschaufelt. Wenn sie dann das Fenster wieder öffneten und das Getreide hoch warfen, erfasste der Wind ungehindert die leeren Ähren und trug sie zur anderen Seite, während das Korn beim Fenster auf den Boden fiel. Auf diese Weise gelang das nur hier, und deshalb gibt es solche Eras nur in Teno Alto.

Nach diesem kleinen Ausflug, zu dem man auch mit dem Auto in Los Bailaderos hätte anreisen können, war es Zeit für unsere Einkehr und einen kleinen Imbiss. Wer einmal selbst erleben möchte, wie früher gedroschen wurde, allerdings ohne den starken Wind von Teno Alto, sei auf die Fiesta del Trillo zwischen San José de los Llanos und Erjos hingewiesen.

Michael von Levetzow

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