60 Jahre – „Wunder von Bern“


Gedanken für mich ­– Augenblicke für Gott

Wenn ich jetzt diesen Artikel für Sie schreibe, dann weiß ich noch nicht, wie die Fußball-WM in Brasilien derzeit für Deutschland verläuft. Ob die deutsche Elf auf dem Weg ins Viertelfinale oder gar mehr ist, oder ob sie sich bereits auf dem Heimweg befindet… Wie dem auch sei.

Eines aber weiß ich sicher: Wenn in den nächsten Tagen die beiden ersten Viertelfinalspiele dieser WM angepfiffen werden, dann erinnern sich viele von uns – direkt oder aufgrund der zeitgeschichtlichen Dokumente – an das „Wunder von Bern“ am 4. Juli 1954, an das Wunder vor 60 Jahren.

Wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, in einer sogenannten „religiösen Kolumne“ so viel von Fußball lesen, dann müssen Sie sich nicht verwundert die Augen reiben, sondern dann ist das von mir durchaus so gewollt. Denn Fußball und Religion sind zwar zwei unterschiedliche Welten, die aber bei genauerem Hinsehen doch viele Gemeinsamkeiten haben. Schon die Redeweise vom „Wunder“ entstammt ja nicht dem Fußballjargon, sondern der religiösen Sprache. Sicherlich: In den 50er- und 60er-Jahren war man mit der Rede vom „Wunder“ recht großzügig. Als zum Beispiel Petra Schürmann 1956 Miss World wurde, sprach man dann ganz schnell vom „Fräuleinwunder“. Oder denken wir an Ludwig Erhard. Er galt als Vater des deutschen „Wirtschaftswunders“. Und als etliche verschüttete Kumpel im Ruhrgebiet gerettet wurden, sprach man unisono vom „Wunder von Lengede“. Ein religiöser Begriff, der so im Alltag menschlichen Lebens salonfähig geworden war und bis heute ist.

Was aber ist denn ein Wunder? Wunder nennt man normalerweise ein Ereignis in Raum und Zeit, welches den Gesetzlichkeiten von Natur und Geschichte widerspricht. Wobei es ja für den deutschen WM-Sieg von Bern durchaus natürliche Erklärungen gab und gibt: Der Kampfgeist und die mannschaftliche Geschlossenheit der Fritz-Walter-Truppe, das deutsche Regenwetter im Berner Wankdorfstadion und ein überragender Taktiker in der Person des Trainers. Und dennoch: An jenem 4. Juli 1954 geschah in Bern mehr als etwas rational Erklärbares. Etwas, für das die religiöse Rede vom „Wunder“ vielen Menschen einfach angemessen erschien. Menschen ertappten sich näm­lich dabei, wie sie Bittgebete zum Himmel schickten. So erzählte mir ein priesterlicher Freund mal vom „paradiesischen Zustand“, den er damals für sich erlebt hat und wer von uns – Hand aufs Herz – hört nicht immer wieder gern die schon legendär gewordene Radioreportage von Herbert Zimmermann, in der immer wieder der Ausdruck fällt „Gott sei Dank“. Nach dem Anschlusstor von Max Morlock: „Gott sei Dank, es steht nicht mehr 2:0.“ Und am Ende stammelt er gar: „Der Abpfiff erlöst uns. So haben wir alle gehofft und gebetet.“

Das Ende dieses Fußballspiels war wirklich so etwas wie eine Erlösung. Denn mit dem Sieg von Bern fand das im Krieg besiegte und zerstörte, das zerbombte und von vielen ungeliebte Deutschland wieder zu neuem Selbstbewusstsein. Dieser Titel war das Signal für eine Aufbruchstimmung, die den Menschen nach Jahren der Depression wieder Selbstachtung schenkte. Durch diesen Sieg im Fußball wurde der Weg Deutschlands in die Völkergemeinschaft wieder geöffnet, der zuvor durch die Gräuel der nationalsozialistischen Diktatur versperrt worden war.

Sich heute – 60 Jahre später – zu erinnern, heißt für mich aber auch, sich kritisch zu fragen: Was ist denn geblieben von der Aufbruchstimmung jener Zeit, die fast religiöse Züge an sich trug? Was bedeutet es denn, wenn wir von „Helden“ reden, deren Leistung wir bewundern? Ist es wirklich richtig, dass wir als Christen alles im Leben in einen Zusammenhang mit der eigenen Leistung bringen wollen, ja bringen müssen? Diese Frage beschäftigt mich, denn unsere Achtung und Selbstachtung als Menschen müssen wir uns doch nicht erst erwerben – weder durch Fußballsiege noch durch andere Leistungen. Für uns Christenmenschen ist es einzig und allein wichtig, dass Gott uns wertschätzt, und zwar unabhängig von all dem, was wir zu leisten instande sind oder was uns in diesem Leben misslingt. Christlicher Glaube ist kein Weg zum Erfolg und auch keine Anleitung zu einer Meisterschaft – egal in welchem Metier. Es ist nicht wichtig, was wir im Leben vollbringen und es ist auch nicht entscheidend, ob all das immer gelingt, was wir uns vornehmen. Nur ein Sieg ist für unser Leben wirklich wichtig und auch von Dauer – das ist die Zusage Gottes an uns, bei ihm immer auf dem ersten Platz zu stehen.

Von dieser Grunderkenntnis und auch Grunderfahrung leben wir als Christen. Genau das macht uns aber auch frei zur Einsatzbereitschaft gegenüber und für andere Menschen. Mich führt deshalb die Erinnerung an das „Wunder von Bern“ nicht nur zur Erkenntnis, welche Wunder wir Menschen vollbringen können, wenn wir uns einer gemeinsamen Sache hingebungsvoll widmen, sondern vielmehr zu dem Wunder, dass Gott unser Leben auch dann als wertvoll ansieht, wenn wir ihm gegenüber nichts, aber auch gar nichts vorweisen können. Denn hinter all den Wundern, die wir durch menschliche Leistung vollbringen, leuchtet für mich das viel größere „Wunder von Golgotha“ auf, welches besagt: Jeder Mensch ist unendlich wertvoll und von Gott geliebt. Das Gedenken an die „Helden von Bern“ sollte uns also vor einer falschen Heldenverehrung bewahren. Denn von Gott sind wir alle zu Heldinnen und Helden berufen – Sie und ich.

Herzlichst, Ihr

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und

Residentenseelsorger

Über Wochenblatt

Das Wochenblatt erscheint 14-tägig mit aktuellen Meldungen von den Kanaren und dem spanischen Festland. Das Wochenblatt gilt seit nunmehr 36 Jahren als unbestrittener Marktführer der deutschsprachigen Printmedien auf den Kanarischen Inseln.