Die Bürger gehen wieder auf die Straße


Am 22. Februar gingen spanienweit Tausende Rentner auf die Straße, um gegen die extrem niedrige Rentenerhöhung zu protestieren, wie hier in Bilbao. Foto: EFE

Für mehr Gerechtigkeit und soziale Leistungen

Madrid – Am 22. Februar belagerten über 5.000 Rentner das Abgeordnetenhaus und durchbrachen aus Protest gegen die minimale Rentenerhöhung von nur 0,25% sogar die polizeiliche Absperrung. Am 8. März nahmen Hunderttausende Frauen die Straßen der Städte ein, um für mehr Gleichberechtigung zu demonstrieren. Nach der Meinung von Experten handelt es sich nicht um einen Zufall, sondern um eine Trendwende. Nachdem zwischen 2012 und 2016 die angemeldeten Demonstrationen von über 44.000 auf knapp 28.000 zurückgegangen waren, steigen die Zahlen jetzt an. Die Spanier stehen für ihre Forderungen ein und gehen wieder auf die Straße, um sich Gehör zu verschaffen.

Am 8. März demonstrierten in vielen Ländern, so auch in Spanien, die Frauen für mehr Gleichberechtigung und gegen häusliche Gewalt. Foto: EFE

Kerman Calvo, Professor für Soziologie an der Universität Essex, erklärte, die Bewegung „15-M“ oder der Unzufriedenen, die im Jahr 2011 spanienweit zu friedlichen Protesten der Bürger gegen das Zweiparteiensystem, die Macht der Banken und für mehr Demokratie und Gerechtigkeit geführt hatte, sei durch Eintritt der linkspopulistischen Podemos-Partei in das Parlament zum Erliegen gekommen. Darüber hinaus hätten die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren seltener zu Demonstrationen aufgerufen, was sich nach Meinung des Experten nun wieder geändert habe. Zudem gehe eine Protestwelle durch Europa, von der auch Spanien erfasst worden sei.

Zwar hat das Innenministerium die konkrete Zahl der im vergangenen Jahr angemeldeten Demonstrationen noch nicht bekannt gegeben, doch haben die Proteste in zahlreichen Städten zugenommen. Wie Concepción Dancausa, Regierungsvertreterin in Madrid, erklärte, haben allein in der Hauptstadt im vergangenen Jahr 12% mehr Demonstrationen stattgefunden. In Barcelona wurde mal für, mal gegen die Unabhängigkeit, gegen Terrorismus, aber auch für eine Gleichstellung der Gehälter der Angehörigen der verschiedenen Polizeieinheiten demonstriert. In Valencia gingen die Menschen wegen des Bildungsmodells auf die Straße, in Valladolid zur Verteidigung des öffentlichen Gesundheitssystems. Überall wurde der Protest vermehrt auf die Straße getragen.

Bei den Demonstrationen beobachten die Experten weitgehende Übereinstimmung der Motive: Es geht um Themen, die die gesamte Gesellschaft betreffen – Gleichberechtigung, Renten, Bildung, Wohnungsmangel –, und zu den Protesten wird selten von Parteien, sondern immer häufiger von Bürgerbewegungen aufgerufen, wodurch sie unpolitisch und übergreifend sind.

Ángel Valencia, Professor für Politikwissenschaft, führt diese Entwicklung auf den „offensichtlichen Stillstand in der Politik“ zurück. Die positiven Wirtschafsdaten reichen nicht aus, um die Bevölkerung darüber hinwegzutäuschen, dass es keinen Haushaltsplan und keine Lösung für Katalonien gibt; die Bürger seien insgesamt verunsichert, was die Zukunft anbelangt.

In einem sind sich die Experten einig: Die Demonstrationswelle hat gerade erst begonnen.

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