Die „Elvira“: Drama der kanarischen Auswanderung 1949


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Kein Unterschied zu den heutigen Illegalen aus Afrika

Gran Canaria, Samstag, 17. April 1949. Über hundert Menschen schleichen vorsichtig durch die Anlagen des Hafens von Las Palmas und klettern leise in Fischkutter, der erste Schritt auf dem Weg ins Eldo­rado Amerika. Die meisten von ihnen sind Bauern der Insel, die für 20 Peseten (0,12 Euro) Tageslohn arbeiteten.

Sie hatten ihre Ziegen verkauft, um die Wahnsinnssumme von 4.000 Peseten auf den Tisch legen zu können, die ihnen für diese Überfahrt mit zweifelhaftem Ausgang abgeknöpft wurde. Die damaligen Schlepperbanden baten genauso gnadenlos zur Kasse, wie es die heutigen tun.

Es ist das Spanien der Depression, ausgelaugt durch das Franco-Regime. Doch im aufstrebenden Venezuela winkte das Glück, eine neue Zukunft. Ohne Papiere und ohne Rechte machen sich die Flüchtlinge heimlich davon. Erste Station ist Jandía auf Fuerteventura, wo sie von dem Segler Elvira aufgenommen werden. Kaum an Bord, werden sie von einer Patrouille der Guardia Civil entdeckt. In aller Hast werden die Segel gesetzt; die Elvira sticht in See. Der Ruf „Beidrehen, im Namen des Gesetzes!“ erschallt durch die Nacht. „Ergebt euch!“ – „Soll sich deine Mutter ergeben!“ tönt es von der Elvira zurück, die flott an Fahrt gewinnt. Zwei Schüsse dröhnen dem sich entfernenden Schiff hinterher, und günstige Winde bringen die Elvira rasch in internationale Gewässer.

Derartige Zwischenfälle waren gang und gäbe in den 40er und 50er Jahren. Tausende von Canarios emigrierten schwarz nach Venezuela, um dort ihr Glück zu machen und das Elend der Wirtschaftsdepression hinter sich zu lassen. Von Übersee aus unterstützten die Männer ihre zurückgebliebenen Familien, bis sie soviel Geld verdient hatten, dass sie als gemachte Männer in die Heimat zurückkehren konnten. Viele blieben auch drüben, und daher bestehen bis heute besonders enge Bande zwischen den Kanaren und Venezuela. 60 Jahre ist das nun her, doch die damalige illegale Immigration hat die kanarische Geschichte bis heute geprägt.

Nicht anders als heute

Heute wiederholt sich die Geschichte aus anderer Richtung. Der Fluchtpunkt heißt heute Afrika und das Ziel Europa. Seit 14 Jahren drängen Flüchtlinge aus dem schwarzen Kontinent auf die Inseln. Sie kommen in maroden Fischerbooten über das Meer, sind meist ausgehungert und krank, wenn sie die Inseln erreichen. Und sie sind – genau wie einst die kanarischen Emigranten – auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben, auf der Flucht vor dem Elend.

Der Autor Gonzalo Morales ist in seinem Buch „Fugados en velero“ (Die Segelschiff-Flüchtlinge) den damaligen Verhältnissen am Beispiel der Elvira nachgegangen. Die Geschichte ähnelt den Erlebnissen der heutigen Illegalen gewaltig.

„Die Canarios waren fast immer im Laderaum zusammengepfercht, wie Sardinen in einer Dose: übereinander, nebeneinander, untereinander. Sie kamen ihrer Notdurft hinter ein paar Brettern nach, und wenn sie seekrank waren, kotzten sie sich gegenseitig voll. Bald waren sie alle verlaust. Die Säure des Erbrochenen verätzte ihre Kleidung, so dass sie bald nur noch in Lumpen gekleidet waren. Die Elvira  stank wie eine Kloake.“

Der knapp 19 Meter lange Segler war 35 Tage auf hoher See gewesen, als die venezolanischen Grenzschutzboote ihn wenige Meilen vor Carúpano aufbrachten.

Die illegalen kanarischen Immigranten wurden in ein Auffanglager in Caracas gebracht, wo für sie der Bürokratie-Krieg um die Einwanderungspapiere begann. Die meisten von ihnen schafften es. Sie begannen ein neues Leben in Venezuela, und viele von ihnen kehrten mit Vermögen in die kanarische Heimat zurück. Damals der gleiche Traum, wie ihn heute die vielen Afrikaner träumen, die nach Europa drängen.

Eine filmreife Geschichte

Tatsächlich ist auf der Elvira so ziemlich alles passiert, was ein Drehbuchautor sich wünschen würde: mafiöse Menschenhändlerbanden, die nur ans schnöde Geld dachten, Meuterei an Bord bis hin zum Versuch, den Kapitän zu lynchen – und die verzweifelten Emigranten, die in Todesängs­ten schwebten.

Und wie immer waren viel zu viele Passagiere auf engs­tem Raum zusammenge­pfercht. Genau wie heute die Flüchtlinge aus Afrika, waren es in der Mehrzahl junge unverheiratete Männer, denen in der Neuen Welt rund 20 Bolívar Tageslohn für harte Arbeit in Aussicht gestellt waren: rund 2,40 Euro, also mehr als das Zwanzigfache ihres Verdienstes auf den Kanaren.

Einzig mit einem Sextanten als Navigationshilfe war es ein wahres Wunder, dass die Elvira überhaupt in Venezuela ankam

Nicht immer waren die Kapitäne auch Hochseekapitäne. So der Kapitän der Elvira, Antonio Cruz Elórtegui: „Ich habe einfach gelogen. Ich war ein politisch Verfolgter aus dem Baskenland, und meine einzige Chance, auf das Schiff zu kommen war, mich als Hochseekapitän auszugeben.“  Als die Mannschaft ihm auf die Schliche kam, wollte der Chef der Expedition, Antonio Domínguez alias El Puro – aufgrund seiner Leidenschaft für dicke Zigarren – umkehren, weil die Überfahrt ohne kompetenten Kapitän aussichtslos schien. Doch ein Passagier, ein ehemaliger Sträfling und Mörder, zettelte mit vorgehaltener Pistole eine Meuterei an und übernahm das Kommando. „Er war nicht der einzige Mörder an Bord und auch nicht der einzige, der eine Pis­tole hatte.“

Als die venezolanischen Grenzschutzschiffe die Elvira aufbrachten, stellten sie drei Feuerwaffen sicher. Wieviele tatsächlich an Bord waren, ist unbekannt. Ebenso ist nicht sicher, ob alle Passagiere, die in Jandía an Bord der Elvira gingen, auch in Venezuela ankamen: 95 Männer, 10 Frauen und ein Kind. Und man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie es in den fünf Wochen auf See unter Passagieren und Mannschaft zuging.

Mehr als genug Stoff für einen spannenden Action-Film. Nur dass diese Geschichte, im Gegensatz zu den meisten Filmen, krude Realität ist.

Zwar gab es damals noch kein GPS, aber die Segler der illegalen Immigranten wurden scharf von der Guardia Civil verfolgt. So machten die Segler teilweise irrwitzige Umwege, um der Verfolgung zu entkommen, was das Elend der Tage auf See deutlich verlängerte – und damit die Not der Passagiere, die all ihr Hab und Gut für diese Überfahrt verkauft hatten. Allein in den 40er Jahren sind rund 128.000 Canarios illegal nach Südamerika emigriert.

Wenn die Segler es schafften, den venezolanischen Patrouilleschiffen zu entgehen, wurden die Immigranten in Privathäusern untergebracht, ebenfalls zusammengepfercht wie die Schafe, denn diese Unterkünfte waren Bestandteil des organisierten Menschen­handels. Wurden die Schiffe geschnappt, kamen die Insassen in Internierungslager, die auch nicht besser waren. Wer Arbeit fand, bekam auch eine Aufenthaltsgenehmigung.

Die Geschichte wiederholt sich praktisch bis ins letzte ­Detail. Einzig, dass heute andere Möglichkeiten der Rückführung bestehen als damals. Doch die Triebfeder der kanarischen Emigranten und der heutigen Illegalen aus Afrika ist die gleiche: der Wunsch nach einem menschenwürdigen Leben.

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