Gerechtigkeit – im Zweifel für die Armen


Gedanken für mich ­– Augenblicke für Gott

Im Buch der Sprichwörter (Altes Testament) heißt es: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“. Eine mehr als stimmige Aussage, denn ein gerechtes Land ist ein schönes Land, vermutlich auch ein glückliches oder doch ein zufriedenes.

Was allerdings alles andere als schön ist, das ist der Sozialbericht, den die OECD (internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) im Mai dargelegt hat. Danach haben nämlich ärmere Menschen in unserem Land und im übrigen Europa fast keine Chance. Das ist so, Gott sei’s geklagt. Wer reich ist, kann leicht reicher werden. Wer arm ist, bleibt es. Die Kinder der Armen bleiben arm. Deren Kinder auch. Selbst wer gerne lernt, wird kaum über die Hauptschule hinauskommen. Es fehlt an allem, was helfen könnte. Bildung ist mehr als Schule, auch wenn die Lehrer noch so gut sind. Bildung ist Lesen und Verreisen und Kino und Computer und Nachhilfe – also viel von dem, was Geld kostet. Und genau das haben eben viele Eltern nicht.

Müssen da aber nicht alle Alarmglocken läuten? Ich denke schon, gerade in der Kirche. Der Buß- und Bettag, den wir in diesen Tagen in ökumenischer Verbundenheit begehen, ist mehr als ein In-sich-Gehen, so hilfreich das auch ist. Der Bußtag schaut ebenso auf unser Land, auf unser Volk. Es gibt ihn seit 1893, damit wir nie einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn wir Ungerechtigkeit erleben. Denn Gerechtigkeit erhöht ein Volk, bringt es Gott sozusagen näher. Dass manche keine Chance haben und wohl nie eine bekommen werden, tut Gott weh. Wir können es ändern, wenn wir uns den Schmerz Gottes zu eigen machen.

Natürlich können wir unser Volk nicht so einfach ändern und die Welt schon gar nicht. Aber dass wir nichts tun können, stimmt eben auch nicht. Das zeigt mir die heilige Elisabeth, deren Gedenktag in diesem Jahr auf den Buß- und Bettag fällt. Diese junge Frau zeigt mir: Da, wo ich stehe, arbeite und mir gerne schöne Tage mache, sollte ich genau hinschauen. Und: Ich sollte darauf achten, ob es gerecht zugeht. Elisabeth sah, wo es nicht gerecht zuging. Wenn zum Beispiel einer hungert, kann das nicht gerecht sein. Wenn ein Kranker mehr leidet als nötig oder ein Verwirrter einfach irgendwo vergessen wird, kann das nicht gerecht sein. Wenn Menschen angestrengt vorbeigucken, wo sie hinschauen sollten, kann das nicht gerecht sein. Das hat Elisabeth erkannt. Sie hat gespürt, wo es auf sie ankam, und wo sie etwas ändern konnte. Heilige waren und sind ja nie Übermenschen. Sie waren und sind Menschen, die nicht wegsahen und es Gott klagten. Die nicht zur Tagesordnung übergingen, sondern die Alarmglocken hörten, auch wenn sie nur sehr leise waren. Und: die Hand anlegten. Zwar nicht überall, aber an dem Ort, an dem sie sich gerade befanden. Sie taten das Nötige, und sie taten es um Gottes willen. Sie machten sich Gottes Schmerzen über die Ungerechtigkeit zu eigen. Das macht heilig.

Der Buß- und Bettag und der Gedenktag der Hl. Elisabeth lehren uns, genauer hinzusehen. Nicht nur in die eigene Seele, sondern auch in die Seele des Volkes, wenn es so etwas gibt. Warum bleiben Arme arm, während Reiche reicher werden können? Welche vielen Möglichkeiten gibt es auf der einen Seite – und auf der anderen kaum eine? Ist das alles Schicksal? Oder stimmt etwas nicht mit der Verteilung? Und: Könnte es sein, dass all dies nicht von selbst in Ordnung kommt? Niemand hat etwas gegen Reiche. Im Gegenteil. Es sei ihnen alles von Herzen gegönnt. Aber gegen Ungerechtigkeit gibt es viel zu sagen, wenn wir hinsehen und nichts verschweigen. Jedes Dorf, jede Stadt, jede Kirchengemeinde kümmert sich zuerst und liebevoll um die, die zurückbleiben. Im Zweifel für die Armen. Und deren Kinder. Ein Kind kann nichts dafür, dass es arm ist. Es hat alle Chancen verdient, die andere auch haben.

Ein Bußtag rüttelt immer an der Tagesordnung, an dem: „Am besten geht es doch so weiter“. Wenn man genau hinschaut, geht manches besser nicht so weiter. Das war der Blick der Elisabeth und vieler anderer, die wir mit Recht verehren. Sie rüttelte an der bequemen Tagesordnung ihrer Zeit. Sie kümmerte sich um die, die nicht mitkamen. Sie machte das nicht in der ganzen Welt, sondern da, wo sie gerade ging und stand. Hauptsache, wir sehen und tun, was nötig ist und was Gott gefällt. Im Zweifel für die Armen – das gefällt Gott. Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sagt Jesus, sondern die Kranken. Wir brauchen keine großen Kräfte dazu. Es ist schön, wenn man sie hat. Aber sie sind nicht immer nötig. Manchmal können wir mit Geld helfen, das ist wahr. Manchmal auch mit dem Stimmzettel bei Wahlen oder mit etwas Zeit fürs Kind der Nachbarn. Aber manchmal braucht es das alles nicht. Man kann anderen nicht immer abnehmen, was sie zu tragen haben; und längst nicht alle wollen, dass wir ihnen etwas von dem abnehmen, was sie auf der Seele oder mit dem Körper zu tragen haben. Oft genügt schon ein empfindsamer Blick, mit dem sich Menschen der Schwere des Daseins versichern. Dass jemand erkennt, wie ungerecht es gelegentlich zugeht, ist der Anfang der Hilfe. Dass ich anderen dann etwas von ihrer Beschämung nehmen kann, lerne ich von Elisabeth. Und darum bittet ER uns: Im Zweifel für die Armen, denn Gerechtigkeit erhöht ein Volk.

Herzlichst, Ihr

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und

Residentenseelsorger

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