Gott unzerstörbar unter uns


Gedanken für mich ­– Augenblicke für Gott

Ihnen allen ist Leonardo da Vincis Letztes Abendmahl sicherlich ein Begriff. Seit etwas mehr als 15 Jahren ist dieses Meisterwerk wieder zugänglich und erstrahlt in neuem Licht.

Eine Totalreinigung war angesagt, die Entschlackung eines Freskos von all den Überlagerungen, den Wachs- und Staubschichten der Jahrhunderte. Es gelang, mit allem Sachverstand zu retten, was zu retten war. Aber: Soll und will man denn einen der peinlichsten Augenblicke im Leben der Kirche retten? Vor 500 Jahren hat ein Künstler die Verwirrung, die Trauer, das blanke Entsetzen der Jünger ins Bild gebracht, als Jesus ihnen eröffnete: „Einer von euch wird mich verraten.“ Jeder wäre dazu fähig, jeder hätte das Zeug dazu. Ausgerechnet da, wo Jesus der Kirche das größte Geschenk seiner Nähe macht, wird sie sich ihrer dunkelsten Möglichkeit bewusst, diese Nähe zu verraten wie Judas, zu verleugnen wie Petrus, zu vergessen wie du und ich. Leonardo da Vinci hält diesen Moment fest: Auf einmal sitzt Jesus isoliert am Tisch, Fassungslosigkeit und Kopfschütteln machen sich breit.

So wurde also das „Letzte Abendmahl“ kurz vor dem endgültigen Verblassen gerettet. Die Arbeit macht deutlich, wie bedroht, wie verschüttet, wie besudelt und überlagert der Name Gottes ist: Bedeckt vom Staub der Jahrhunderte, von frommem Kerzenruß und dem Geröll der Worte, von den gewaltigen Rahmen, die wir dem winzigen Gott in Brotsgestalt geschaffen haben. Um ein Haar wäre da Vincis Ultima Cena im 2. Weltkrieg weggebombt worden. Heute dagegen wird vielen der Glaube an Gott weggebombt. In vielen Seelen verwittert der Glaube an ihn.

Das Kunstwerk ist gerettet. Aber können wir wirklich einholen, welches Glaubenszeugnis Leonardo da Vinci malend ablegte? Oder sehen wir nur ein perspektivisch meisterhaft geratenes Gemälde, mit dem sich Leonardo unsterblich machte? Wer rettet denn Gott selbst vor dem Verblassen und Vergessenwerden? Ist ER überhaupt noch zu retten? Oder werden wir ihn halt im Gedächtnis behalten wie ein Kulturerbe? Gott lebt mit dem Risiko, vergessen zu werden. Er, der diese Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen Sohn in sie hineingelegt hat wie ein unauslöschliches Merkmal, kann er gerettet werden vor der geistlichen Verwitterung im Gedächtnis von uns Menschen? Ist die Kirche eine Art Restauratorin wie Giuseppina Brambilla Barcilon, die Frau, die da Vincis Gottesbild in Santa Maria delle Grazie gerettet hat? Halten wir ihn durch gute Taten, durch unsere Liebesmüh, durch unseren starken Glauben am Leben – getreu dem Wort „Ich habe keine anderen Hände als eure Hände“? In Mailand haben Mönche irgendwann unter dem Fresko eine Tür durchgebrochen und dabei die Füße Jesu weggeschlagen.

Gott ist nicht zu retten, weil er nicht von uns gerettet werden muss. Gott sorgt selbst dafür, dass er nie verloren geht, dass er bei uns bleibt bis an der Welten Ende – verborgen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Gegenwart Gottes bleibt uns unauslöschlich erhalten, seine Nähe ist durch keine Macht dieser Welt wegzudrängen. Wir haben immer Zugang zum Herzen Gottes. Anders als beim „Letzten Abendmahl“ des Leonardo da Vinci. Da werden Besucher seit der Restaurierung nur in Kleingruppen zugelassen, werden entstaubt und dürfen höchstens 15 Minuten stehen bleiben vor dem wunderbaren Werk. Zu Gott werden wir hineingelassen, in ihm bewegen wir uns, in ihm leben wir und sind wir. Gott ist da, er lebt ohne mein Zutun und will zunächst nichts anderes von mir als die einfache Freude, dass er da ist. Dass Gott um seiner selbst willen gut und schön ist. Wir dürfen feiern ohne Hintergedanken.

Wir feiern – anders als beim Kunstwerk in Mailand – einen unbeschränkten Zugang zum Herzen Gottes, der uns wie durch ein Wunder eröffnet wurde. Staubbeladene Menschen dürfen sich in Gottes Nähe aufhalten. Keiner wird zuvor durch eine Reinigungsschleuse gezwungen. Menschen, die sich vielleicht nur 15 Minuten am Tag für ihn Zeit nehmen, dürfen bei dem wohnen, der eine Ewigkeit lang für mich Zeit hat; nicht nur Auserwählte, Sachverständige und abgezählte, elitäre Kleingruppen haben Zugang, sondern eine Kirche aus Heiligen und Sündern. Immer ist „Tag der offenen Tür“ hinein in die Nähe Gottes, der uns im Heiligen Geist bei sich haben will und uns die Nähe des auferweckten Herrn schenkt.

Wir dürfen eintreten – nackt und mittellos, voller Staub, ohne Eintrittskarte, ohne Führer, ohne angelesenen Sachverstand. Dürfen einfach so vor ihm stehen, zu ihm und in ihn hineingelassen werden. Und keiner hat ihn allein für sich – wie die Künstlerin, die 20 Jahre lang Tag und Nacht mit dem Gottesbild (fast) alleine war, es exklusiv berühren konnte. Sie bedauerte ein wenig, nun anderen Platz machen zu müssen.

Wir müssen Platz machen füreinander, müssen wissen, dass mein Gott für dich ist und nie für mich allein, dass in der Ewigkeit Milliarden Augen auf ihm ruhen und seine Liebe so unendlich ist, dass sie alle erreicht, wie Jesus das eucharistische Brot mit allen teilt, auch mit Judas. Das ist das Wunder: Gott sorgt für sich selbst, er möchte uns an seinem Tisch haben, um mit uns sein Abendmahl neu zu feiern – mit uns, die wir das Tischtuch zwischen ihm und uns aus Vergesslichkeit, aus Ungeduld, aus Lässigkeit zerschneiden.

Es ist schön, dass Menschen imstande sind, sich ein so großes Bild vom Mensch-gewordenen Gott zu machen wie Leonardo da Vinci. Noch einfallsreicher ist das Gottesbild, das uns bei der Mitfeier seines Letzten·Abendmahls zugemutet wird: Ein gebrochenes Brot, eine nur hörbare Nähe, eine seltsame Augenweide. Reine Freude am unsichtbaren Gott, in dem wir alle Platz haben. 

Herzlichst, Ihr

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und 

Residentenseelsorger

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