Machen Kleider Leute?


Die Schülerinnen und Schüler aus dem „Keller“-Kurs der Klassen 8a und 8b machten die Erfahrung, dass Kleider unser Denken und Handeln beeinflussen. Foto: dst

Eine Reportage von Achtklässlern der Deutschen Schule Teneriffa

„Kleider machen Leute“ – so heißt eine bekannte Novelle, die Gottfried Keller im Jahr 1874 veröffentlichte. Generationen von Schülern mussten und müssen sie seitdem im Deutschunterricht lesen. Doch nur lesen oder den Filmklassiker mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle sehen? Das reicht einer Gruppe von Achtklässlern der Deutschen Schule Teneriffa nicht.

Wie viele wissen, geht es in dem Buch um einen armen Schneider, der aufgrund seiner vornehmen Kleidung für einen edlen und vornehmen Grafen gehalten wird. Am Anfang der Handlung steht damit eine Verwechslung, die schwerwiegende Folgen hat. Denn anstatt seine Mitbürger auf die Verwechslung aufmerksam zu machen, nutzt Wenzel Strapinski die Situation aus und lässt sich fürstlich verwöhnen, – natürlich ohne dafür zu bezahlen.

Wurden Menschen damals wirklich nur wegen ihrer Kleidung anders behandelt? Und wie ist es heute? Diesen Fragen wollen die Schülerinnen und Schüler der Deutschgruppe „Keller“ selbst nachgehen. In mehreren Redaktionssitzungen werden Ideen gemeinsam beraten, Pläne geschmiedet und Textvorlagen geschrieben.

In verschiedenen Experimenten, die die Schüler nach der Schule in kleinen Teams durchführen sollen, begeben sich immer zwei Schüler nacheinander in dieselbe Situation, die bei den Mitmenschen eine Reaktion auslösen. Das Besondere dabei: Der erste Schüler, der das kleine Experiment beginnt, ist besonders vornehm gekleidet. Der zweite dagegen besonders schlicht. Zu beobachten gilt: Werden die Leute auf gut gekleidete Jugendliche anders reagieren als auf schlecht gekleidete? Wird die Kleidung der Schüler die Reaktionen der Menschen beeinflussen oder sogar bestimmen?

María, Natalia und Antonia führen ihren Versuch in einem großen Kaufhaus im Zentrum von Santa Cruz durch. Und zwar an der Theke der Feinkostabteilung. Hier gibt es viele sehr leckere Dinge, die aber auch etwas mehr kosten.

María, die sich besonders schick gekleidet hat und teuren Schmuck trägt, fragt nach einem Stück guten Käse. Die Verkäuferin ist sehr nett und gibt ausführlich Auskunft darüber, welcher Käse der beste sei. Weil unser Lockvogel noch immer unsicher ist, bekommt María ein großes Stück zum Probieren. Was für ein Glück! Aber war das nur Zufall?

Einige Minuten später betritt Natalia, unser schlecht gekleidetes Versuchskaninchen, das Kaufhaus und begibt sich an die Feinkosttheke. „Ich war sehr nervös und hatte sogar Angst, rausgeschmissen zu werden!“, berichtet Natalia. Die Frau hinter der Theke schaut Natalia ungläubig und misstrauisch an. Immer wieder mustert sie das Mädchen. Als Natalia schüchtern eine Frage zu einem Schinken stellt, erhält sie keine Antwort. Stattdessen schweigt die Bedienung. Wie unangenehm.

Edgar und Adrian treffen sich unterdessen im Parque García Sanabria. Einer von ihnen hat sich als reicher, der andere als armer Junge verkleidet. Sie wollen so tun, als ob sie beim Spazieren durch den Park Geld verlieren. Ausgerüstet mit ein paar farbkopierten Zehn- und Zwanzig-Euro-Scheinen machen sie sich an die Arbeit. Wie werden die Leute wohl reagieren? Wird man ihnen das Geld wiedergeben? Und welche Rolle wird ihre Kleidung dabei spielen?

Die Antwort fällt erstaunlich deutlich aus. Während im ersten Versuch 13 von 14 Parkbesuchern dem gut gekleideten Edgar das verloren geglaubte Geld wiedergeben, gerät der „arme“ Adrian nur vereinzelt an ehrliche Finder. Nicht wenige Passanten stecken das Geld einfach ein.

Der selbstgewählte Schauplatz für das Experiment von Margarita und Daniel ist ein Flohmarkt. Die junge Schülerin, die in stilvoller Kleidung die Stände abschreitet, behauptet gegenüber zwei Flohmarktbesucherinnen, leider ihr Handy verloren zu haben und bittet darum, in einer dringenden Angelegenheit kurz telefonieren zu dürfen. Während Margarita das erste Mal Erfolg hat und das Handy einer Frau tatsächlich erhält, wird ihr dieses beim zweiten Mal versagt.

Daniel, der schlecht gekleidet zum Gegenversuch antritt, muss miterleben, dass von zehn Leuten nur zwei dazu bereit sind, ihm ein Handy zu leihen.

Nicht um Käse, um Handys oder um verlorenes Geld geht es derweil Verónica, Selma und Maximilian. Gegenstand ihres Selbstversuchs sind teure Ketten in einem Juweliergeschäft. Als besonders vornehm gekleidete Dame macht Verónica sichtlich Eindruck auf die Verkäuferin. Außerordentlich freundlich wird sie empfangen und ausführlich beraten. „Das hat sich richtig gut angefühlt“, schwärmt sie. „Ich wurde behandelt wie eine höhere Person.“

Doch wie ergeht es Selma, die auf dieses Kostüm verzichtet?

Es sei völlig egal gewesen, was sie gesagt habe, erzählt Selma entrüstet. Denn wie erwartet sei sie in demselben Geschäft nur kühl empfangen und gar nicht beraten worden. „Ich hatte den Eindruck, dass alle nur wollten, dass ich gehe“, berichtet sie.

Wer glaubt, dass Kleider nur zu Lebzeiten von Gottfried Keller Leute gemacht haben, der irrt leider. Durch ihre Experimente konnten die Schüler herausfinden, dass wir Menschen durch ihre Kleidung wahrnehmen und beurteilen, ohne sie zu kennen. Bis heute ist dies von großer Bedeutung.

„Manchmal“, so schreibt eine Schülerin in ihrem Fazit, „ist die Gesellschaft ganz misstrauisch und vergisst, dass man auch heutzutage dem Nächsten vertrauen kann. Dieses Thema ist aktuell, oder besser zeitlos, denn Hilfsbereitschaft ist nicht von Epochen abgegrenzt.“

Eine Reportage von Verónica, Selma, Maximilian, Margarita, Nico, Daniel, María, Natalia, Antonia, Edgar und Adrian aus dem „Keller“-Kurs der Klassen 8a und 8b, mit ihrem

Deutschlehrer Sebastian Schünicke

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