Es wird befürchtet, dass Gerichte regionale Beschränkungen wieder kippen werden
Madrid – Am 9. Mai endet der zweite Notstand, den die spanische Regierung Ende Oktober vergangenen Jahres erlassen hatte, nachdem deutlich wurde, dass ohne diese besondere gesetzliche Regelung das Chaos ausbricht. Nachdem nämlich der erste „estado de alarma“ Ende Juni 2020 nach drei Monaten aufgrund rückläufiger Zahlen wieder aufgehoben wurde, sahen sich zahlreiche Regionalregierungschefs mit der Problematik konfrontiert, dass Gerichte die von ihnen auf lokaler bzw. regionaler Ebene erlassenen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus immer wieder kippten. Als deutlich wurde, dass die Infektionsgefahr dadurch nicht mehr unter Kontrolle zu halten war, verabschiedete die sozialistische Regierungskoalition erneut den Notstand, der nun am 9. Mai ausläuft und nicht mehr, so bestätigte Regierungschef Pedro Sánchez bereits, verlängert werden soll.
Zahlreiche Regionalregierungschefs und die konservative Opposition befürchten nun, dass mit dem Ende des Notstands erneut ein juristisches Chaos ausbrechen könnte. Dann nämlich, wenn die Regionalregierungen aufgrund steigender Infektionszahlen versuchen, die Situation auf lokaler bzw. regionaler Ebene wieder in den Griff zu bekommen, indem sie für besonders gefährdete Gebiete Beschränkungen erlassen, die dann jedoch wieder von Gerichten annulliert werden, wie es bereits nach dem Ende des ersten Notstands geschehen war. Die spanische Regierung müsse deswegen juristische Mittel auf den Weg bringen, die diesem Chaos vorbeugen. Eine Möglichkeit, die die Regierung jedoch mit dem Argument abwehrt, die derzeit geltende gesetzliche Lage sei ausreichend, um auch auf regionaler Ebene Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr zu erlassen. Der einzige Unterschied zum derzeit geltenden Notstand sei die Tatsache, so heißt es, dass die Gerichte das letzte Wort bei den Entscheidungen haben. Eine Meinung, die vielerorts nicht geteilt wird. Die Erfahrung aus dem vergangenen Jahr habe genügend verdeutlicht, dass vielerorts zuständige Gerichte wichtige Beschränkungsmaßnahmen wieder aufhoben, wobei erschwerend hinzukam, dass die dafür angewandten Kriterien in keiner Weise einheitlich waren.
Der am 25. Oktober 2020 per Dekret verabschiedete Notstand regelt unter anderem auf landesweiter Ebene die vier wichtigsten Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie:
Die nächtliche Ausgangssperre, die Beschränkung der freien Reisemöglichkeiten auf lokaler und regionaler Ebene, bekannt als cierre perimetral, die Beschränkung der Versammlungsmöglichkeit sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum auf maximal sechs Personen sowie die Beschränkung der Teilnehmerzahlen bei Zusammenkünften in Kirchen und sonstigen religiösen Orten. Die im Rahmen eines geltenden Notstands erlassenen Maßnahmen konnten nicht von Gerichten gekippt werden. Ohne diese rechtliche Sonderregelung dürfen derartige Einschränkungen der Grundrechte jedoch nur mit Erlaubnis des Nationalen Gerichtshofs (wenn die Maßnahme von der Zentralregierung erlassen wurde) bzw. mit Erlaubnis der Obersten Gerichtshöfe (wenn sie durch eine Regionalregierung erlassen wurde) durchgeführt werden. Eben das jedoch führt zu großer Unsicherheit in der Bevölkerung, widersprüchlichen Gerichtsentscheidungen und der Tatsache, dass sich Regionalregierungschefs in ihrem Bemühen, die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen, behindert sehen.
Ein Großteil der zu der Problematik befragten Juristen befinden, dass eine Lösung für die juristisch unsichere Lage nach Ende des Notstands gefunden werden müsse, allerdings sprechen sie sich entschieden gegen die Möglichkeit aus, dass diese Lösung darin bestehen könne, Regionalregierungschefs bei der Beschränkung von Grundrechten die alleinige Entscheidungshoheit ohne juristische Kontrollorgane zu überlassen. Die wird vonseiten einiger Präsidenten von Regionalregierungen und der konservativen Opposition gefordert.
Derzeit sind die Entscheidungen von Regionalregierungen im Hinblick auf derartige Beschränkungen außerhalb eines Notstands durch das Organgesetz 3/1986 für Sondermaßnahmen im Bereich der Öffentlichen Gesundheit abgedeckt. Allerdings ist die dort festgelegte Formulierung, die die Möglichkeit zur Ergreifung von „als notwendig erachteten Maßnahmen“ regelt, so allgemein gehalten, dass sie eine schier unendliche Vielfalt an Auslegungsmöglichkeiten für die Gerichte beinhaltet. Was die häufig gegensätzlich ausgefallenen gerichtlichen Entscheidungen aus dem Sommer letzten Jahres bereits vor Augen geführt haben. Einige Juristen sind deswegen dafür, eine Reform dieses Gesetzes durchzuführen, um detaillierter zu regeln, welche Maßnahmen durch das Gesetz gedeckt sind. Andere befinden jedoch, es sei unmöglich, alle möglichen Einzelfälle aufzuführen, sodass dennoch weiterhin viele Initiativen gekippt werden könnten.