Die Kanarischen Inseln erzeugen und exportieren Früchte. Vor allem für den europäischen Markt, aber natürlich auch für den Eigenbedarf. Bananen, Weintrauben, Avocados, Mangos, Papayas und Erdbeeren, um nur einige der wichtigsten zu nennen, machen nach wie vor die Landwirtschaft zu einem der wichtigsten kanarischen Wirtschaftszweige. Die Äpfel der Hesperiden, obwohl sie in jedem modernen Reiseführer über die Inseln erwähnt werden, sucht man allerdings selbst an den immer gut bestückten Verkaufstheken der großen Markthallen in Santa Cruz oder La Laguna vergebens. Ein Besuch dort ist trotzdem ein Erlebnis. Diese sagenhaften Früchte, der altgriechischen Mythologie entsprungen, sollen allerdings ganz konkrete Entsprechungen unter dem ursprünglichen kanarischen Obstangebot haben.
Der Überlieferung nach war der Baum, der diese Äpfel hervorbrachte, ein Geschenk Gaias, der personifizierten Erde, an die Göttermutter Hera, als diese sich mit Zeus vermählte. Das war kein gewöhnlicher Apfelbaum; denn seine Früchte verliehen den Göttern ewige Jugend. Köstlich sollen sie geschmeckt haben, obwohl die Götter um den Preis der ewigen Jugend sicherlich auch bittere Früchte in Kauf genommen hätten. Dieses Hochzeitsgeschenk war so anders als andere, die man lieber nicht bekommen hätte, dass Hera es im Westen am äußersten Ende der Welt in einem Garten von Nymphen, den Hesperiden, bewachen und pflegen ließ. Da Nymphen eher nicht abschreckend wirkten, musste sich auch noch ein hundertköpfiger, feuerspeiender Drache um den Baum ringeln. Anfangs, als die alten Griechen ihre Umgebung noch wagemutig erkundeten, lag dieser Garten nah an ihrem Land. Mit Erweiterung ihres Horizontes verschob sich dieser Garten so lange westwärts, bis er schließlich seinen endgültigen Platz jenseits der Säulen des Herkules, der heutigen Straße von Gibraltar, mitten im erdumspannenden Ozean fand. Zahlreiche große Geister bringen diese Ortsangabe mit den Kanarischen Inseln in Verbindung. Fantasiebegabte erkennen in dem hundertköpfigen Drachen einen feuerspeienden Vulkan, wenn nicht gar den Pico del Teide selbst, auch wenn der in den letzten 3000 Jahren gar nicht so oft ausgebrochen ist.
Wenn man schon den Ort des Gartens der Hesperiden ungefähr und den alten Drachen einigermaßen bestimmt hat, sollte doch auch etwas zu den Äpfeln zu sagen sein. Da es in vorspanischer Zeit nur ganz wenige Bäume mit essbaren Früchten auf den Inseln gab, ist die Zahl möglicher Kandidaten überschaubar. Als Baum kommt eigentlich nur der Madroño, der Kanarische Erdbeerbaum (Arbutus canariensis) in Frage. Allenfalls könnte man noch an den Feigenbaum denken. Aber von diesem ist unter den Archäologen und Historikern sehr umstritten, ob er schon vor der Eroberung hier wuchs. Dass die alten Griechen Feigen und Äpfel verwechselten, erscheint eher unwahrscheinlich.
Die meisten Madroños, denen wir unterwegs in der unteren Lorbeerwaldstufe und im Übergang in den Bosque termófilo, den wärmeliebenden Buschwald begegnen, sind eher klein. Große, stattliche Exemplare sind selten. Ein besonders schöner steht bei der Ruine der Casa Fuset im Anaga-Gebirge. Offensichtlich wurden diese Bäume, wie so viele andere auch, zur Brennholzgewinnung gefällt. Ihre Früchte erinnern nur bei oberflächlichem Hinsehen äußerlich an Erdbeeren. Sie sind eher orange. Ihr etwas trockenes Fruchtfleisch, das auch von einer gedörrten Mandarine stammen könnte, schmeckt mir eher bitter. Kein Göttergenuss. Aber der Baum ist trotzdem eine göttliche Erscheinung.
Anscheinend bin ich mit meiner Abneigung gegen Madroño-Früchte nicht allein. Jedenfalls wurde von Kritikern dieses Vorschlages ein ganz anderer Kandidat ins Spiel gebracht. Im Reifen verfärbt er sich von Grün über Gelb in ein kräftiges Rot-Orange. Man könnte diese Früchte eigentlich gut ab Mai oder Juni beim Wandern entdecken. Nur färben sich dann auch die Laubblätter der Pflanze nach und nach gelb und vertrocknen schließlich. In dieser Kontrastarmut übersieht man sie gerne, während zuvor die auffälligen, ungewöhnlich großen Blüten dieser Pflanze zwischen sattgrünem Laub hervorleuchteten. Diese Früchte sehen tatsächlich wie ein kleiner Apfel oder ein Granatapfel aus und sind gar nicht so selten in der Waldstufe anzutreffen. Man muss warten können, bis sie wirklich reif sind. Ihr Fruchtfleisch ist dann weich und etwas pastös mit zahlreichen kleinen darin eingebetteten Kernchen. Vorher, wenn sie sich noch etwas fest anfühlen, sollte man sie hängen lassen; denn dann sind sie noch bitter. Einige Vögel und die Eidechsen erkennen genau, wann der richtige Zeitpunkt erreicht ist, und fressen die Fruchtschale leer. So kommt es darauf an, die Frucht genau im richtigen Moment zu entdecken, voll reif, aber noch nicht angefressen. Wie sie schmecken? Mild und etwas süß. Moderne, gezüchtete Früchte weisen aber deutlich höhere Zuckergehalte auf. Von dieser Pflanze gibt es jedoch keine Zuchtform. Ihr zartes Aroma kann ich mit keiner mir bekannten anderen Frucht vergleichen. Eine Götterfrucht? Vielleicht. Himmlisch auf jeden Fall. Neulich auf dem Weg von Bejía zum Volcán de las Rozas habe ich ganz viele gefunden und natürlich auch einige gegessen. Jetzt überlege ich, ob ich vielleicht mit meiner Krankenkasse verhandeln sollte. Wegen ewiger Jugend.
Falls es einen konkreten Hintergrund für die Sage von den Äpfeln der Hesperiden gegeben haben sollte, wäre die Kanarische Glockenblume Bicácaro (Canarina canariensis) – denn um diese handelt es sich – mit ihren apfelähnlichen Früchten unbedingt eine gute Option einer Erklärung.
Michael von Levetzow
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