Wandern und Entdecken


Wandern? Bei Calima?

Das beste Klima der Welt lädt zum Wandern in unseren Insellandschaften ein. Außer bei Calima. Wenn der Wind heiße und oftmals auch staubgeschwängerte Luftmassen aus der Sahara heranweht, raten Ärzte von Anstrengungen ab. Vor allem Menschen mit Atemwegs- oder Kreislaufproblemen sollten dann auf Anstrengungen, also auch auf Wanderungen verzichten. Aber tagelang nur rumsitzen und nichts tun, ist auch nicht jedermanns oder ­
-fraus Glück. Was also tun? Zunächst einmal: Planen Sie für Calima-Tage keine langen Wanderungen und vermeiden Sie starke Steigungen und sonnige Wege. Mit ausreichend Flüssigkeit versorgt, können Sie sich dann im richtigen Gelände auf den Weg machen – trotz Calima. Das richtige Gelände? In manchen Inselgegenden finden wir einigermaßen flache Wege entlang der Küste. Die sind aber uneingeschränkt der Sonne ausgesetzt und daher an solchen Tagen nur dritte Wahl. Das Gleiche gilt für die beliebten Mandelblüten-Wanderungen bei Santiago del Teide. Sie sind ohne Schatten und bei Calima nicht zu empfehlen. Einige Pisten in den Kiefernwäldern haben zwar nur geringe Steigungen und bieten gelegentlich Schatten, bei Calima bleiben sie zweite Wahl. Wenn richtig Calima herrscht und wir wegen Staub und Dunst in der Luft den Teide und die anderen hohen Berge nur mehr schemenhaft sehen können, sollten wir alte Lorbeerwälder aufsuchen. Dort ist es schattig und angenehm kühl, selbst die Luft ist staubfreier. Denn das dichte Laub filtert den Staub aus der Luft. Richtig alte Lorbeerwälder gibt es auf Teneriffa nur an wenigen Stellen, und für einige wie El Pijaral braucht man eine Genehmigung. Aber in den Höhen von Acentejo bei Ravelo und Agua García wächst einer der schönsten und ältesten Lorbeerwälder der Insel auf nur mäßig geneigtem Gelände. Es gibt ein gutes Wegenetz. Erste Wahl bei Calima.

Wegen der anhaltenden Calima-Phase haben wir jegliche Wanderung im heißen Süden der Insel bis auf Weiteres verschoben. Auf den interessanten Wegen dort ist es viel zu heiß und zu steil. Im Norden ist es eher noch steiler und bei staubigem, aber wolkenfreiem Himmel auch nicht verlockend. Dann die Idee: „Fahren wir doch einfach mal nach Ravelo!“ Gesagt, getan. Bereits bei der Autobahnausfahrt von El Sauzal zeigt uns ein Wegweiser die Richtung; wir müssen der steilen Straße nur immer aufwärts folgen. Sie endet bei der Zona recreativa „Las Calderetas“, einem großen öffentlichen Grillplatz am Rand des dortigen Lorbeerwaldes. Eine Tafel informiert über die von hier aus erreichbaren markierten Wanderwege. Man könnte nach Las Raíces wandern, aber das sind 600 m Höhenunterschied, nichts bei Calima. Der Lomo de Jara liegt näher, das Gelände ist nur sanft geneigt und der Höhenunterschied etwa 150 m. Vor allem aber geht es hier durch einen schönen alten Lorbeerwald – einen, der in Teilen noch seit Jahrhunderten erhalten ist.
Anfangs führt eine Piste in östlicher Richtung in den Wald. Zwischen den lorbeerwaldtypischen Baumarten rechts und links des Fahrwegs wachsen auch standortfremde Baumarten: einige Eukalypten und vor allem kurznadelige Kiefern (Pinus radiata). Sie erinnern daran, dass hier während des zweiten Weltkrieges mit schnellwüchsigen Arten aufgeforstet wurde, um der drohenden Versteppung der Insel Einhalt zu gebieten. Heute werden sie nach und nach durch standortgerechte Bäume ersetzt. Nach etwa 100 Pistenmetern geht es bei einem großen Trinkwasserspeicher auf einen Waldweg. Er ist beschildert und markiert. Wir folgen ihm zum Lomo de Jara.
Gleich nach Betreten des Waldes spüren wir die angenehm kühle Luft. Hier wirkt nicht nur der Schatten. An heißen Tagen verdunsten Blätter reichlich Wasser. Der Vorgang entzieht der Luft Wärme. Obwohl wir nur wenige Schritte vom Waldrand entfernt wandern, erreicht uns die Hitze der freien Landschaft nicht. Fast ebenerdig verläuft der Weg, und sehr bald wird der Artenreichtum dieses Waldes erkennbar: Lorbeerbäume, die diesem Waldtypus den Namen gaben, Breitblättrige Stechpalme, Kanarischer Schneeball, Aderno und Delfino – allesamt endemische Baumarten, die es nur auf einigen mittelatlantischen Inseln gibt. Nur selten finden sich dazwischen die sonst auf dieser Höhenstufe weit verbreitete Baumheide und der Gagelbaum (Faya), ein deutlicher Hinweis, dass dieses Gebiet nur einer geringeren Nutzung durch die Menschen unterlag. Zwischen den Bäumen wächst reichlich Unterholz: Seidelbast, Kanarischer Fingerhut, Großblättriges Johanniskraut. Für diejenigen, die sich für Pflanzen interessieren und einigermaßen Spanisch oder Englisch können, lohnt sich hier die Arbolapp Canarias, eine kostenlose App, die vom Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC) herausgegeben wird. Der Weg wird dadurch länger, aber bestimmt nicht langweilig; denn die App bietet nicht nur einen einfachen Schlüssel zur Bestimmung der Baumarten, sondern reichlich Informationen zu deren Biologie und weiteres Wissenswertes.
Hier ist seit mehreren Jahrhundertausenden keine Lava mehr geflossen. Entsprechend stark verwittert sind die obers-ten Bodenschichten, längere Passagen wandern wir hier auf lehmähnlichem Rohboden. Ab und zu schauen aber noch Steine hervor, Stolperfallen, die aufmerksames Gehen auch hier verlangen. Und der stetige Blick zum Boden hat auch sein Gutes: Gelegentlich liegen blauschwarze Früchte auf dem Weg, ihr Aussehen und ihre Größe erinnern an kleine Oliven. Es sind die Früchte des Laurel, der weiblichen Pflanze des Kanarischen Lorbeerbaums. Als „Loro“ werden die männlichen Bäume dieser Art bezeichnet. Unter der schwärzlichen ledrigen Haut der Früchte befindet sich nur eine dünne Schicht Fruchtfleisch, die einen relativ großen Kern umschließt. Er ist gerade noch klein genug, um von größeren Singvögeln mit der ganzen Frucht verschluckt werden zu können. Das wiederum war im Zeitalter des Tertiärs die entscheidende Voraussetzung dafür, dass solche Samen im Verdauungstrakt von Vögeln auf unsere Inseln gelangen konnten. Öffnen wir die Fruchtschale mit dem Fingernagel, können wir einen würzigen Lorbeerduft wahrnehmen. Die Vögel von damals hatten wohl einen guten Geschmack.

Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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