Wandern und Entdecken


Duftzeit

Phase 2. Die Beschränkungen der Quarantäne wurden weiter gelockert. Nach wochenlanger, eigentlich monatelanger auferlegter Enthaltsam­keit sind wir nicht die einzigen, die wieder wandern möchten, aber nicht wissen, was denn wirklich erlaubt ist – neuerdings – wieder. Deutlich hat sich unser innerer Rhythmus den Corona-Regeln angepasst und steht dem entgegen. Es muss nichts Großes, nichts Neues sein. Umsicht, Vorsicht, Vorausschau sind neue Leitmotive; wer will eine Ansteckung riskieren – nach all diesen Einschränkungen! Zwar achten die meisten auf den Abstand, aber nicht alle. Hinauf in die Berge oder Wälder zu fahren, wäre besser. Aber Gerüchte behaupten, das sei noch nicht erlaubt. Oder vielleicht doch? Dann würde uns die Polizei zurückschicken und es hoffentlich bei einer Belehrung belassen.

Eine massige, sich von See zäh und fast bewegungslos hereinschiebende Nebelwand hatte sich vor den unteren Teil der Tigaigawand gelegt und die Sicht über das Meer in milchweißem Dunst verschwinden lassen. Darüber zeigte sich der Pico del Teide nur dünn verschleiert, als ginge ihn das Wetter an den Stränden nichts an. Dort oben sollte die Luft klar sein und subtropisch trocken. Für eine kurze Höhenwanderung bräuchten wir nichts als passende Kleidung, gute Schuhe und genügend Trinkwasser. Kurz entschlossen und schon relativ spät am Vormittag brachen wir auf.
Die TF-21 zum Nationalpark ist nahezu verkehrsfrei und sehr entspannt befahrbar. Anders als früher erscheint sie bunt. Sie windet sich durch ein Meer aus purpurfarbenen, gelben und weißen Blüten: Zistrosen- und Ginsterbüsche, dazu große Mengen des Kanarischen Hahnenfußes. In den vergangenen Wochen hatte sich das Wolkenmeer immer wieder bis an den Berghang herangeschoben, Erde und Pflanzen mit Wasser versorgt und diese Pracht entstehen lassen. Wir könnten hier anhalten und wandern, es wäre sicherlich wunderschön. Aber die Einfahrten zu den Pisten sind mit Flatterbändern abgesperrt – ein ungünstiges Omen? Andererseits sind die Chozas, die offenen Hütten, unter deren Dach man picknicken könnte, frei zugänglich. So fahren wir weiter und wären auch mit der üppigen Schönheit der Straße zufrieden, sollte uns die Polizei wieder nach Hause schicken. Jetzt, nach dem allgemeinen Stillstand, erwacht die Insel in einer Pracht, wie ich sie in mehr als fünfzig Jahren noch nicht erlebt habe.

Längst ist der Himmel über uns tiefblau und klar, La Palma zeichnet sich fast vollständig vor dem nordwestlichen Horizont ab, als wir nah bei El Portillo unsere kleine Wanderung beginnen. Ohne uns wäre es vollkommen menschenleer. Die Farben unter dem Himmel scheinen uns entgegenzuspringen. Gäbe es hier Grautöne, bestimmt leuchteten sie ebenso wie die rote Schlacke der Montaña Guamaso oder die ockerfarbenen, schon stark verwitterten Lapili der gegenüber auf der anderen Seite der Straße aufragenden Montaña del Cerrillar. Wir befinden uns hier im Buschland, durch das das kanarische Hochgebirge charakterisiert ist. Ein paar zerzauste Kiefern an etwas begünstigten Orten deuten die Kampfzone des Bergwaldes an. Ihre Nadeln und vor allem das frische Grün zahlreicher Sträucher und Büsche zeigen, dass der Bergfrühling Ende Mai noch nicht vorüber ist.
Die anderen Farben, vor allem ein leuchtendes Gelb und ein pastelliges Weiß mit etwas Rotbraun gemischt, könnte man auch bei geschlossenen Augen riechen und unterscheiden. Mit Tausenden rapsähnlichen Blüten an einem einzigen Strauch und einem vergleichbaren Aroma belädt die Teiderauke (Descourainia bourgeauana) die Atmosphäre mit dem Duft von Honigbonbons und lockt Insekten an. Wie Wirtshausschilder leuchten die kleinen gelben Blüten. Tatsächlich sind sie auch so angeordnet: Auf dünnen Stängeln stehen sie bis zu 20 cm über den Blättern dieser eher niedrigen Sträucher. Nach der Blüte, wenn der Wind die kleinen Samenkörner aus den Schoten ausgestreut hat, vertrocknen die Stängel, werden strohgelb und erinnern von Weitem an in der Landschaft liegende Schafe. Hierba pajonera nennen die Spanier sie, was Strohkraut bedeutet.
Deutlich fruchtiger und nicht ganz so süßlich duften die weißlich-cremefarbenen Blüten des Teide-Ginsters, der Retama (Spartocytisus supranubius). Er verteilt seinen Duft etwas sparsamer. Kommt uns der Honigduft der Teiderauke in großen Wolken entgegen, müssen wir näher an seine Blüten herangehen, um ihn wahrzunehmen.
Beide Düfte lassen sich so gut unterscheiden wie die Farben und Formen der sie verströmenden Blüten. Das ist kein Zufall; denn keine Pflanze hat etwas davon, wenn ein Insekt ihre Pollen zu den Blüten einer anderen, also im Sinne der Fortpflanzung falschen Art trägt. Und Insekten hätten von einem Durcheinander ebenfalls nur Nachteile; denn ohne Blütentreue der bestäubenden Insekten stürben diese Blütenpflanzen mangels Bestäubung und Samenproduktion aus, versorgten also niemanden mehr mit Nahrung. Deswegen müssen Blüten für ihre Insekten eindeutig aussehen und duften und Insekten Aussehen und Düfte „ihrer“ Blüten lernen können.
Retamabüsche und Teiderauken bilden hier die Hauptmenge der Pflanzen. Ihnen sagen die Bedingungen von Boden und Klima sehr zu. Weniger häufig finden wir an Orten mit besonderen Bedingungen weiß und violett blühende Alhelí (Erysimum scoparium) und die gelb-weißen Blüten der Teide-Margerite (Argyranthemum teneriffae). Auf dem Weg durch den Krater der Montaña Guamaso begegnen wir ihnen häufig. Auf diesem Berg wachsen keine Natternköpfe, weder die rot- noch die blaublühende Art. Ihnen sagen die Bodenverhältnisse nicht zu. Aber weiter entlang der Straße durch den Nationalpark, jenseits von El Portillo, locken auch sie mit Aussehen und Duft ihre Bestäuber an.
Die Polizei hat nicht nach uns Ausschau gehalten, die Park-Ranger auch nicht.

Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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