Bei El Portillo erreichen wir vom Orotava-Tal kommend den Nationalpark „Cañadas del Teide“. Das war schon immer so. Hier führte bereits einer der wichtigsten Wege der Ureinwohner zu den Sommerweiden der Ziegen- und Schafherden, die dort oben runde 2000 Jahre lang Sommer für Sommer die Pflanzen abnagten. Später, nach der Unterwerfung der Guanchen durch die Spanier, diente der Weg außerdem dem Handel zwischen den Nord- und Südgebieten Teneriffas. Man nannte ihn Camino de Chasna – nach der Gegend um Vilaflor, die auch Chasna genannt wurde. Auf ihm erreichten alle großen Reisenden des 18. Und 19. Jahrhunderts, nicht nur Alexander von Humboldt, El Portillo, den Zugang in das Hochgebirge, um als Nächstes auf einem weiteren Pfad über die Montaña Blanca den Pico del Teide zu besteigen. Der Camino de Chasna hingegen wandte sich von El Portillo in östliche Richtung und durchquerte die Ebenen, die sich unterhalb der Steilabstürze der Cañadas del Teide in sanftem Auf und Ab ausbreiten. Schließlich erstieg man den Sattel zwischen Guajara und Pasajirón, um auf die Südabdachung der Insel zu gelangen, wo der Weg nach Vilaflor hinabführt. In Teilen gibt es diesen historischen Weg heute noch. Er wurde aber teilweise durch modernere Pisten ersetzt. Der Camino de Siete Cañadas und seine Fortsetzungen sind seine modernen Varianten. An ihm entlang können wir Spuren und Folgen nahezu unvorstellbarer Katastrophen entdecken. Diese ereigneten sich schon lange Jahrhunderttausende, bevor die ersten Siedler die Insel erreichten.
Was waren diese Katastrophen? Wann ereigneten sie sich? Vulkanische Inseln können in geologisch ziemlich kurzen Zeiträumen von wenigen Jahrhunderttausenden Höhen von 2000 – 3000 m und mehr erreichen. Trotz der vielen stabilen Felsen aus Basalt oder Phonolith in ihrem Inneren sind sie keineswegs stabil, sondern können unter ihrem eigenen Gewicht zusammenstürzen. In der Regel brechen bei solchen Ereignissen ungeheuer große Flächen ab und versinken innerhalb weniger Minuten – Geologen sprechen von Sekunden!!! – im Meer. Das Orotava-Tal ist so vor rund 500.000 Jahren entstanden. Ein etwa 120 km² großes Gebiet kollabierte damals in einer Dicke von durchschnittlich fast 500 m und verschwand in wenigen Momenten im Ozean, wobei eine gewaltige Flutwelle, ein Megatsunami ausgelöst wurde. Wie hoch dieser war, ist nicht bekannt. Wo er auf Land traf, muss er aber deutlich höher als 100 m gewesen sein. Dies entspricht etwa der Höhe des Tsunamis, der nach dem Flankenkollaps von Güímar 300.000 Jahre früher den Norden von Gran Canaria erreicht hat. Im dortigen Tal von Agaete liegen dessen Ablagerungen mehr als 150 m über dem heutigen Meeresspiegel. Vor 175.000 Jahren ereignete sich dann ein weiterer Megabergsturz in der Gegend des heutigen Icod de los Vinos, es könnte sich aber auch um drei zeitnah sehr kurz aufeinanderfolgende Ereignisse gehandelt haben. Einige Befunde sprechen dafür. Er beförderte knapp 175 km² Land ins Meer und hinterließ ein nicht ganz so tiefes Tal wie sein Vorgänger im Gebiet von La Orotava. Es wurde vom Pico del Teide, dessen Entstehung damals begann, und seinen Nebenvulkanen weitgehend wieder aufgefüllt.
Am deutlichsten erkennen wir die Spuren dieser Katastrophe in den Steilwänden der Cañadas del Teide, unterhalb derer wir auf dem Camino de Siete Cañadas wandern können. Sie sind nicht die damalige Abbruchkante selbst. Die dürfte etwa dort verlaufen sein, wo sich heute der Weg befindet. Vor allem in den ersten 100.000 Jahren nach diesem Flankenabbruch, wurden die ursprünglichen Wände wahrscheinlich durch Erosion rasch abgetragen und weiter rückwärts zu ihren heutigen Positionen verlagert. Danach war der Pico del Teide groß genug, um diesen Prozess erheblich zu verlangsamen, und auch breit genug, um die von ihm und seinen kleineren Nachbarn geförderte Lava zwischen sich selbst und dem Wandfuß zu stauen, wodurch die großen und kleineren Ebenen entstanden, die wir dort heute vorfinden.
Entlang der Cañadas-Steilwände können wir über viele Kilometer Länge die horizontalen Schichten der Ablagerungen zahlreicher Vulkanausbrüche erkennen, die allesamt deutlich älter sind als dieser letzte Mega-bergsturz auf Teneriffa und der Pico del Teide. Weißliche Schichten in den Wänden sind dabei übrigens Hinweise auf alte, sehr explosive Eruptionen aus dieser Vor-Teide-Zeit. Nur in der Nähe von El Portillo finden wir in dem großen Rund, das den Pico del Teide hufeisenförmig umgibt, keine dieser auffälligen Schichten. Es gibt dort auch keine Steilwände, sondern zahlreiche, mehr als 30.000 Jahre alte Vulkankegel. Einer von ihnen, die Montaña de las Arenas Negras, schließt endlich direkt an die Steilwand an. Die Lava all dieser Vulkane floss überwiegend in Richtung des Orotava-Tals und füllte dieses teilweise wieder auf. Die ursprüngliche Oberkante dieses Tals reichte vor 175.000 Jahren bis hierher. Der nachfolgende Cañadas-Bergsturz riss genau hier die obere Grenze des Orotava-Tals mit in die Tiefe und hinterließ eine große Lücke, die bis hinüber zum Cabezón reichte. Er ist der höchste Punkt der Tigaiga-Wand, die das Orotava-Tal nach Westen begrenzt. Und genau durch diese Lücke betreten seit 2.500 Jahren von Norden kommend Menschen dieses Gebiet. Der Ort heißt El Portillo, auf Deutsch „die Maueröffnung“.
Michael von Levetzow
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