Wandern und Entdecken: Schöne Verwandtschaft


Teneriffa bietet als höchste der mittelatlantischen Inseln einige lohnende Hochgebirgswanderungen. Obwohl die meisten technisch einfach sind, sollte man sie nicht unterschätzen. Die Höhe und die klimatischen Bedingungen fordern ihren Tribut. Und auch der vulkanische Untergrund ist für Wanderer vom Kontinent alles andere als das Gewohnte. Hier zu wandern kann anstrengend sein. Die großartige Kulisse, weltweit einmalige Landschaften und Eindrücke wiegen solche Unannehmlichkeiten wieder auf. Wer darüber hinaus noch einen Blick für die zahlreichen Details entlang des Weges hat, für Farben, Steine, Pflanzen und Tiere, erhält ein ganz besonderes Erlebnis. Was dahintersteckt, bleibt allerdings den meisten verborgen.

Die meisten Hochgebirgsrouten Teneriffas befinden sich 2000 – 2500 m über dem Meeresspiegel, also dort, wo in den deutschen Alpen bereits die meis­ten Gipfel liegen. Diese Höhenstufe liegt hier fast ganzjährig über den Wolken und bietet daher ein ungewöhnliches Klima. Trotz der geringen Entfernung zum Meer sollten wir es als kontinental bezeichnen; denn heiße, trockene Sommer und niederschlagsreiche, kühle Winter sind hier vorherrschend. Tiefere Lagen Teneriffas, in den Wolken und darunter, sind klimatisch sehr anders. Somit bildet die Hochgebirgslandschaft auf unserer Insel eine durch ihr Klima definierte eigene Vegetations-Insel, in der sich alle Lebensräume von denen des tiefer gelegenen Restes der Insel unterscheiden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir hier oben überwiegend Pflanzenarten antreffen, die es nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt, auch nicht nur einige Hundert Meter tiefer auf der Insel, gibt. Sie könnten dort unten wegen des anderen Klimas nicht gedeihen.

Die Blühperiode der bis zu drei Meter hohen roten Natternköpfe geht jetzt allmählich dem Ende zu. Wir begegnen ihnen in allen Entwicklungsstadien auf unseren Streifzügen durch den Nationalpark und seine engere Umgebung. Echium wildpretii heißen sie wissenschaftlich korrekt. Der Name erinnert an Hermann Wildpret, einen Schweizer Botaniker, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts große Verdiens­te um Erhalt und Verbesserung des Botanischen Gartens von Puerto de la Cruz erworben hat. Er hat den Taginaste rojo, wie die Pflanze bei den Einheimischen heißt, erstmalig wissenschaftlich beschrieben. Die Bezeichnung „Taginaste“ für alle kanarischen Natternkopf-Arten geht hingegen auf die Ureinwohner zurück. Was das Wort genau bedeutet, ist nicht bekannt. Wir können aber aus der Existenz eines urkanarischen Namens ableiten, dass diese Pflanze für die Guanchen eine Bedeutung hatte. Zumindest diente sie mehrere Jahrtausende als Futterpflanze für deren Viehherden aus Ziegen und Schafen. Vor 65 Jahren, bei der Gründung des Nationalparks und dem damit verbundenen Ende des Wanderhirtenwesens auf Teneriffa, stand der „Orgullo de Tenerife“ – „der Stolz Teneriffas“ wegen Überweidung vor dem Aussterben. Dank dem Schutz durch den Nationalpark hat sich der Bestand wieder gut erholt. Auch wenn in der deutschen Literatur von „Wildprets Natternkopf“ gesprochen wird, einen eigenen deutschen Namen besitzt diese Pflanzenart nicht. Zwar gibt es im deutschsprachigen Raum durchaus auch mehrere Arten von Natternköpfen – und sie sind auch hübsch, aber den Taginaste rojo gibt es nur hier. Eine nah verwandte Unterart wächst auf der Nachbarinsel La Palma, ist dort aber sehr selten.

Neben dem Taginaste rojo gibt es in unserem Hochgebirge noch eine zweite Natternkopf-Art. Sie blüht blau und ist deutlich seltener. Nie wachsen beide Arten nebeneinander. Die rote Art mit ihren schlanken, übermannshohen Blütenkerzen bevorzugt felsigen Untergrund. Wo sie wächst, dürfen wir mit nur einer geringen Erdschicht über dem festen, aber von Spalten durchzogenen Gestein rechnen. Typischerweise entwickeln unsere Natternkopfgewächse wenige lange und tief in den Boden reichende Wurzeln, mit denen sie das in den Spalten vorhandene Wasser vom letzten Regen erreichen. In Felsspalten hält sich das Niederschlagswasser oft monatelang. Lange Wurzeln sind eine gute Anpassung an Lebensräume, in denen es während langer Sommermonate nicht regnet. Anders der blaue Natternkopf, Echium auberianum, den die Einheimischen „Taginaste picante“ nennen. Er bevorzugt lo­ckere Bimsböden und entwickelt ein flaches, weitreichendes Wurzelgeflecht, das möglichst viele Bimssteinchen erreicht. Bims ist ein sehr poröses Material. In seinen vielen kleinsten Hohlräumen kondensiert bei Abkühlung Wasserdampf aus der Luft zu kleinen Tröpfchen. Das nutzt die Pflanze wirkungsvoll aus und kann damit auf Standorten gedeihen, die ihr großer roter Konkurrent nicht besiedeln kann. Wer auf die Montaña Blanca steigt oder über andere ausgedehnte Bimsgrusfelder wandert, kann ihr dort gelegentlich begegnen. Sie verzweigt sich kurz über dem Boden in mehrere Blütenkerzen, die schlanker und weniger hoch sind als die der roten Art.

Um zu keimen, brauchen ihre Samen vor allem täglich einen großen Temperaturunterschied. Nur in diesen Höhen heizt die Sonne den Boden so weit auf und kühlt der Nachtwind stark genug, um diese Bedingung zu erfüllen. Etwas tiefer, in den Kiefernwäldern, herrschen andere Bedingungen – und wachsen andere Natternkopfarten. Auch deswegen beschränkt sich ihr Vorkommen auf die Hochgebirgszone, diese klimatische Insel auf der Insel.

Beide Arten sind nah verwandt. So nah, dass sogar gelegentlich Kreuzungen zwischen ihnen möglich sind, obwohl sie sich nicht die gleichen Lebensräume teilen. Grund dafür sind die großen Nektarmengen, die die Blüten bei beiden produzieren. Dadurch werden neben zahlreichen Insektenarten auch Vögel zu den Blüten gelockt, die anschließend, mit Blütenstaub am Schnabel, weit entfernte Taginastes der einen oder der anderen Art zur erneuten Nahrungsaufnahme aufsuchen und diese dabei bestäuben. Die dadurch entstehenden Hybride sind allerdings unfruchtbar und pflanzen sich nicht fort.

Michael von Levetzow 

Tenerife on Top

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