Gedanken für mich – Augenblicke für Gott
Gibt es wirklich keine Gnade für die Frau? Ich meine die Frau des Lot. Wie sie heißt, ist leider nicht überliefert. Sie stirbt, und ich finde, das hat sie so gar nicht verdient. Aber lassen Sie mich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzählen, denn ich weiß ja gar nicht, ob sie Ihnen so geläufig ist.
In der Bibel, im 2. Buch Mose (Exodus), steht die Geschichte von einem Mann namens Lot. Er ist ein Neffe des berühmten Abraham. Lot und seine Familie wohnen in Sodom, einer Stadt mit katastrophalen moralischen Zuständen. Lot und seine Familie – Frau und Töchter – sind anscheinend die einzigen „anständigen“ Leute dort. Deshalb hat Gott, den wir im Alten Testament häufig sehr gewaltvoll erleben, beschlossen, die durch und durch verdorbene Stadt zu vernichten. Nur die Familie von Lot will er retten. Also schickt er ihnen Engel. Selbst diese Engel werden belästigt und bedroht und können sich nur aus der Affäre ziehen, weil sie eben Engel sind. Sie drängen Lot und seine Familie, schleunigst aus der Stadt zu fliehen. Lot sträubt sich dagegen, denn er hat Angst, ins Unbekannte aufzubrechen. Aber schließlich willigt er ein. Und so führen die Engel ihn, seine Frau und seine Töchter aus der Stadt und warnen sie eindringlich davor, zurückzuschauen. Aber Lots Frau macht genau dies. Sodom ist zwischenzeitlich eingehüllt in Feuer und Schwefel. Die Frau dreht sich also um – und erstarrt zur Salzsäule. Lot und die Töchter gehen ohne sie weiter.
So weit also diese biblische Geschichte. Ausgerechnet Lots Frau, die doch zu den Anständigen, den Guten gehört, muss also genauso sterben, wie die abgrundtief Unmoralischen in der Stadt. Wenn der Tod in diesem Falle eine Strafe ist, weil sie dieses Verbot übertreten hat, dann kann ich das – deshalb meine Frage zu Beginn – nicht verstehen. Allerdings finde ich einen Zugang zu diesem Schicksal, von der menschlichen, der seelischen Seite her.
Lots Frau blickt zurück und ist nicht mehr lebensfähig. Mit gutem Grund, denn dort, wo sich bislang ihr Leben zugetragen hat, ist kein Leben mehr möglich. Kennen wir das aber nicht aus unserem Leben? Manchmal „erstarren“ auch wir nach etwas Schrecklichem. Wir können uns eine Weile nicht rühren, lassen nichts an uns heran, geschweige denn in uns hinein. Da macht die Seele schlussendlich etwas ganz Ähnliches wie der Körper. Wenn ich ein Bein breche, dann legt der Arzt es ja auch in Gips, stellt es ruhig, damit es nicht beansprucht wird. Und in diesem Schutz-Gips kann dann das Bein von innen heraus heilen.
Erstarren muss also kein Endzustand sein; in der Natur, im Winter ist es doch auch normal: „still und starr ruht der See“ – bis es an der Zeit ist, dass er wieder auftaut. Erstarren kann mitunter sogar notwendig sein, ein Schutz, um die Lebenskraft wieder zu finden.
Vor diesem Hintergrund finde ich es gut, dass Lots Frau zurückschaut. Er tut das nicht, sondern er lässt die Vergangenheit und die Katastrophe einfach hinter sich und schaut nur nach vorn. Sie aber schaut zurück und ist innerlich beteiligt. Ihr ist das Vergangene noch viel wert; sie hängt an dem, was sie mit Sodom verbindet, und was sie beim Zurückblicken sieht, setzt ihr zu bis ins Mark. Sie kann nicht einfach weitergehen, und sie kann den Blick noch nicht nach vorn wenden. Aus und vorbei – das geht nicht so leicht bei ihr. Deshalb entscheidet sich jetzt alles daran, ob sie sich auf Dauer bannen lässt, ob sie innerlich an dem Ort bleibt, an dem sie doch nicht mehr leben kann. Oder ob sich das Vergangene in ihr allmählich so verwandelt, dass sie weiterleben und nach vorne blicken kann. Lots Frau hat dabei die Chance, etwas von der Vergangenheit, die ihr ja auch kostbar war, mitzunehmen auf den neuen Wegen und an die neuen Orte.
Die Geschichte von Lot und seiner Frau zeigt zwei Typen des Umgangs mit der Vergangenheit: Lot geht entschlossen vorwärts, seine Frau blickt zurück und kann nicht weitergehen. Das sind zwei extreme Formen: was vorbei ist, ist vorbei, nach mir die „verbrannte Erde“, mich soll nichts halten, ich fange radikal neu an. Und das andere: ich weiß, dass das bisherige vergangen ist, aber noch hält es mich, es ist nicht einfach nur vergangen, es ist jetzt noch ein Teil von mir. Und das so sehr, dass es mich festhält, unfähig macht, weiterzugehen. Ich glaube nicht, dass das eine besser ist als das andere, und selber schwanke ich oft zwischen beidem. Ich möchte so entschlossen vorwärtsgewandt sein wie Lot und gleichzeitig das Vergangene schätzen. Ich möchte im Vorwärtsgehen das Vergangene nicht von mir amputieren, mit dem Schönen und dem Schmerzlichen.
Die Bibel gibt uns mit Lot und seiner Frau zwei extreme Typen für eine solche Übergangssituation. Sie gehören beide dazu, wenn ein Übergang gelingen soll. Das Vergangene wirklich noch einmal anschauen, sehen und annehmen: es ist ein Teil von mir, den ich mir nicht aus dem Herzen reißen muss. Die Kunst ist, dass ich mich nicht auf Dauer fesseln, sondern vom Neuen, vom noch Unbekannten anziehen lasse. Und mit den neuen Erfahrungen kann sich das Alte dann allmählich verwandeln.
Herzlichst Ihr
Bertram Bolz, Diakon
Kath. Touristen- und
Residentenseelsorger
Diesen und frühere Artikel können Sie nachlesen unter: www.katholische-gemeinde-teneriffa.de oder unter www.wochenblatt.es
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