Gedanken für mich – Augenblicke für Gott
Vor Kurzem haben wir Allerheiligen gefeiert, und um dieses Fest herum fiel mir ein Artikel in die Hand, der die Überschrift trug: „Die wilde Hilde“. Zunächst dachte ich, es handelt sich dabei um Hildegard Knef – aber denkste: Weit gefehlt.
Es ging um Hildegard von Bingen. Als diese in Köln predigte, da zog sie mit folgenden Aussagen gegen die Geistlichkeit vom Leder: „Ihr seid eine Nacht, die Finsternis ausatmet, und wie ein Volk, das nicht arbeitet. Ihr liegt am Boden und seid kein Halt für die Kirche, sondern ihr flieht in die Höhle eurer Lust. Und wegen eures ekelhaften Reichtums und Geizes, sowie anderer Eitelkeiten unterweist ihr eure Untergebenen nicht. Ihr solltet eine Feuersäule sein, den Menschen vorauszuziehen…“ (s. Manfred Becker-Huberti, Heilige in Köln).
Diese „wilde Hilde“ wurde also 2012 von Papst Benedikt XVI. – nach Teresa von Avila, Katharina von Siena und Therese von Lisieux – erst zur vierten Kirchenlehrerin überhaupt erhoben – 33 kennt die Kirche. Lang, lang hat’s gedauert. Erst anlässlich ihres 900. Geburtstages 1998 lenkte die Kirche wieder verstärkt ihren Blick auf diese ungewöhnliche Frau, die eine so große und umfassende Begabung hatte: Visionärin, Künstlerin, Dichterin, Musikerin, Medizinerin, Äbtissin, Beraterin… Ja, diese Hildegard ist eine schillernde Persönlichkeit. Sie bietet sich als Projektionsfläche für eigene Vorlieben an: Die einen sehen in ihr eine gottverbundene Mystikerin, andere eine kleruskritische Kirchenreformerin, die nächsten eine frühe feministische Theologin, wieder andere eine ganzheitliche Ärztin. Hildegard wird für kirchenpolitische Anliegen genauso in Anspruch genommen wie für esoterische Theorien.
Hildegard stellt sich ganz in die Tradition der biblischen Propheten, indem sie betont, dass sie nur Gefäß für die Aufnahme und Übermittlung des göttlichen Wortes sei. Wie sonst könnte sie sich auch in einer von Männern dominierten Kirche behaupten und sich Gehör verschaffen. Wobei Hildegard hier zwar einerseits Selbstbewusstsein zeigt und demonstriert, aber andererseits kann sie sich doch nie völlig frei machen von der Minderbewertung der Frau in der Theologie und Kirche. Aber gerade das greift sie dann auf und dreht es zu ihrem Vorteil um: Denn Gott erhöht doch die Niedrigen und Demütigen und erweist an ihnen seine Macht. So entwickelt sie eine erstaunliche öffentliche Aktivität, unternimmt Predigtreisen – man höre und staune – unter anderem am Main und an der Mosel entlang, und auch am Rhein kommt sie bis Köln. Vom Volk wird sie verehrt, da sich in ihrem Umfeld viele Heilungen ereignen, was ihr den Ehrentitel „deutsche Prophetin“ einbringt.
Hauptthemen ihrer Predigten sind – neben kosmischen Bildern – vor allem die Anklage des Geistlichen und die Kritik am Kaiser. Sie kämpft gegen die Missstände im Klerus und gegen Übergriffe der weltlichen Macht auf die Kirche. Doch die Klerusschelte ist nur ein Zug ihres umfassenden Anliegens: Nämlich uns zur Auseinandersetzung mit den innersten Motiven unserer Lebensgestaltung anzuleiten. In ihren Werken führt sie die Leserinnen und Leser dahin, die tiefsten Regungen und alles, was von außen an uns zerrt, anzuschauen und die verschiedenen Kräfte in eine förderliche Ordnung zu bringen. Der Arzt, der unser inneres Chaos heilen kann, das ist einzig und allein der menschgewordene Heiland. Hildegard vertritt dabei kein verstaubtes Moralsystem, sondern sieht den entscheidenden Ansatz sehr modern darin, dass wir uns ehrlich den Krisen stellen, dass wir um unseren Lebensweg ringen und dabei Gott auch an die verwundeten Stellen heranlassen und dann schmerzhafte Entscheidungen nicht scheuen. Nur so gelingt uns das Leben, von dem Jesus sagt: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.
Hildegard weiß: Im Streben nach dem Guten ist es wichtig, die schöpferischen Kräfte in uns lebendig sein zu lassen und ihnen körperhaften Ausdruck zu geben. So beschreibt sie kenntnisreich und umfänglich den menschlichen Körper, stellt das Weibliche positiv heraus und gibt viele Hinweise zu einer gesunden Lebensführung. Ganzheitlichkeit ist dabei ihr Stichwort, weil Heilung für sie immer ein Leib und Seele umfassendes Geschehen ist.
Die Impulse, die von der „wilden Hilde“ ausgehen, kann man wahrscheinlich mit folgenden Worten am besten zusammenfassen: Der Sinnlichkeit und Leiblichkeit in unserem Glauben genug Raum geben; in Bildern und Symbolen denken; die geistlichen und theologischen Gaben der Frauen anerkennen und ihre Stellung in der Kirche aufwerten; ein einseitiges rationalistisches Weltbild erweitern und konsequent den Weg nach innen gehen.
Herzlichst, Ihr
Bertram Bolz, Diakon
Kath. Touristen- und
Residentenseelsorger
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