Ohne Ziel
„Vega“ bedeutet „fruchtbare Ebene“. Las Vegas ist ein kleines Dörfchen auf der Gemarkung von San Miguel de Abona. Momentan fällt in dieser Gegend vor allem ausgedörrtes Land mit vertrocknet wirkenden Büschen auf. Aber in der Umgebung des Ortes gibt es tatsächlich einige kleine Vegas mit Ackerbau. Sie gaben dem Weiler schon vor mehr als 500 Jahren ihren Namen. Hier siedelten die spanischen Eroberer nach der Unterwerfung Teneriffas ihre eingeborenen Hilfstruppen an, die sie auf Gran Canaria rekrutiert und denen sie als Belohnung Land versprochen hatten. Verglichen mit den guten Ackerböden des Nordens war hier Landwirtschaft zu jeder Zeit ein undankbares und schweres Geschäft. Zahlreiche aufgegebene Felder bezeugen das. Dennoch blieben die Angesiedelten und ihre Nachkommen hier und rangen dem Boden ihren Lebensunterhalt ab. Ob sie sich über diese Landzuweisung freuten, ist unbekannt. Fest steht dennoch, dass sie sich mit dem Überleben in solch kargen Gegenden gut auskannten. Unter anderem beherrschten sie die Technik, künstliche Wohnhöhlen zu graben, was die unterworfenen Guanchen Teneriffas nicht kannten, noch konnten. Die ersten Wohnhöhlen Teneriffas sind damals genau hier in die Tosca gegraben worden. So heißt der helle, weiche und leicht zu bearbeitende Bimsstein, der hier die Bandas del Sur, die Südabdachung der Insel großräumig bedeckt und den Eindruck verstärkt, wir bewegten uns in einer Wüste oder etwas sehr Ähnlichem. Klimatisch gesehen stimmt dieser Eindruck.
Man erreicht Las Vegas über die Ausfahrt 49 der Südautobahn. Der Ort liegt oberhalb von Chimiche jenseits der TF-28. Von dort oder in der Nähe führen mehrere markierte Wege in die Umgebung. Wir könnten nach Los Escurriales – besser bekannt als Paisaje Lunar – oder bis hinauf zur Guajara wandern. Ihr Gipfelplateau liegt rund 2000 m höher. Der sehenswerte Barranco del Río ist auch nicht weit. Dieses Mal ist nichts davon unser Ziel. Im Grunde genommen haben wir kein Ziel. Wir wollen der Bewegungsarmut des Corona-Tages entgehen, laufen und schauen. Kurz vor dem Ort können wir beim PR TF-83.3 parken. Der Himmel ist wolkenlos, die Luft trocken und einigermaßen warm. Wir haben genug Wasser im Rucksack; denn noch wissen wir nicht, wie lange und wie weit es gehen soll.
Es geht in ein paar kurzen Kehren auf einem gepflasterten Bauernpfad aufwärts. Nicht lange, und wir stehen vor einem rechteckigen Loch im Boden. Dicke Seile trennen den Platz vom Weg. Wir haben eine Zisterne entdeckt. Sie wurde in die Tosca gegraben und versorgte vermutlich früher Bauern mit Trinkwasser. Wasser war und ist hier knapp. Durch das Bimsgestein könnte es nach und nach versickern. Also wurde die ganze Zisterne innen sorgfältig mit Putz verkleidet. Aber woher erhielt sie Wasser? Eine Wegbiegung weiter finden wir die Antwort. Eine kleine, aber deutliche Wasserrinne entspringt hier mitten im Weg und leitete Regenwasser zur Zisterne. Der gepflasterte Weg selbst diente als Wassersammler.
Einige Schritte weiter steht ein kleiner kuppelförmiger Bau aus Bruchsteinen, ein Dörr-Ofen, in dem die Bauern einst Feigen trockneten. Reife Feigen enthalten reichlich Zucker und sind entsprechend nahrhaft. Während der Feldarbeit und unterwegs zum Markt waren sie energiereiche Leckerbissen, Energieriegel von damals. Das Mauerwerk der Rückseite des Ofens geht in die Stützmauer eines angrenzenden Terrassenfeldes über – sparsam und praktisch. Von hier aus führt ein gepflasterter, relativ breiter Weg schnurgerade auf einen weiteren Ofen zu. Das ist zwar nicht unser markierter Pfad, aber wir sind neugierig und werden nicht enttäuscht. Türen und leere Türöffnungen werden sichtbar. Sie münden auf einen kleinen, aus der Tosca herausgearbeiteten Vorplatz. Man hätte ihn breiter anlegen können. Möglicherweise brauchte man ihn nicht größer. Die Bimsfelsen, die man seinerzeit stehen ließ, entzogen allerdings dieses ehemalige Bauernhaus neugierigen Blicken, weder vom Wanderweg und erst recht nicht vom Meer aus war es sichtbar. Darauf wurde jahrhundertelang großer Wert gelegt; denn Piraten überfielen gelegentlich einsame Häuser.
Das Höhlen-Bauernhaus ist fensterlos. Bei einfachen Bauernhäusern, auch den gemauerten, war das so. Jeder Raum hat seine Tür zum Hof, aber nicht zum Nachbarraum. Zwei Wohnräume, Küche und Schlafkammer, sowie ein paar kleine Nebenräume als Speicher und vielleicht auch für die Tiere: so waren bis über die Mitte des letzten Jahrhunderts hinaus die Behausungen hiesiger Kleinbauern. In den Wänden der Wohnräume zeigen kleine Nischen, wo die wenigen Habseligkeiten aufbewahrt wurden. In die Wände geschlagene Nagelreihen dienten wohl zum Aufhängen der Kleidung und einiger Küchenutensilien. Das Leben der Leute war so karg wie die Landschaft, von der sie lebten.
Wir sind anschließend noch eine gute Weile weitergegangen. Es hat sich gelohnt; denn der Weg ist leicht und der stetige, nicht zu starke Passatwind kühlte angenehm. Hier und da noch eine kleine Entdeckung und die Gewissheit, dass hinter den nächsten Wegkehren und auf dem nächsten Bergrücken noch mehr wartet. Wir kommen bald wieder.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top