» Der Latex macht’s «


Tabaiba dulce. Foto: Michael von Levetzow

Jede Kanarische Insel besitzt in Küstennähe eine klimatisch trockene Zone, die sie wie ein Gürtel umgibt. An den Nordseiten reicht er 200 – 300 m die Hänge hinauf, an den Südseiten 500 – 800 m. Weil Lanzarote und Fuerteventura diese Höhen gerade eben erreichen, bestimmt dort dieser Gürtel fast das gesamte Landschaftsbild. Es ist das Gebiet der Sukkulenten, solcher Pflanzen also, die genug Wasser speichern können, um auch längere Tro-

ckenperioden zu überstehen. Bäume gehören nicht dazu, wohl aber zahlreiche Sträucher und krautige Pflanzen. Die Charakterpflanzen des kanarischen Sukkulentenbuschs sind Cardón und Tabaiba, weshalb diese Gesellschaft einschließlich weiterer Pflanzenarten, die dieses Klima aushalten, als Cardonal-Tabaibal bezeichnet wird. Wir begegnen ihnen oft auf Wanderungen in dieser Höhenstufe, sofern sie nicht im letzten Jahrhundert Plantagen weichen mussten. Im Gegensatz zu diesen, deren Bananen und Tomaten hier nur dank üppiger Bewässerung überleben, brauchten die Sukkulenten nie zusätzliche Bewässerung. Sie sind an den spärlichen Regen angepasst. Hier heimische Tiere sind zwar an das Leben in der Trockenheit ebenfalls adaptiert, aber dennoch darauf angewiesen, jede für sie erreichbare Wasserquelle zu nutzen. Die Wasserspeicher der Sukkulenten gehören zu diesen potenziellen Quellen; wer sie frisst, bekommt mit der Nahrung gleich noch das Wasser. Viele Pflanzen schützen sich allerdings sehr effektiv vor dem Gefressen-Werden. Manche machen das mit Stacheln oder Dornen. Cardón und Tabaibas nehmen dafür Latex.

Vor 2000 Jahren, zur Zeit des Kaisers Augustus, herrschte in Mauretanien König Juba. Seit ihrer Jugend waren beide befreundet. Diesem Umstand verdanken wir den einzigen erhaltenen antiken Bericht einer Expedition zu den Kanarischen Inseln. Unter der Leitung durch Jubas Leibarzt, Euphorbius, brachte die erfolgreiche Expedition zahlreiche Pflanzen mit. Welche das waren, ist nicht überliefert. Zu Ehren von Euphorbius wurde im 18. Jahrhundert eine ganze Pflanzenfamilie, die Wolfsmilchgewächse, als Euphorbiaceae benannt. Zwar gibt es Wolfsmilchgewächse in der alten und in der neuen Welt in verschiedenen Arten, und meis­tens sind sie giftig, aber mit allein 40 verschiedenen Arten, von denen manche nur auf einer Insel oder nur in bestimmten Inselteilen vorkommen, sind sie sehr typisch für die Kanaren. Der Cardón (Euphorbia canariensis) ist Symbolpflanze der Insel Gran Canaria. Lanzarote wird in dieser Hinsicht durch Tabaiba dulce (Euphorbia balsamifera) repräsentiert. Beide Arten kommen auf allen Inseln vor. Tabaiba dulce gibt es auch an verschiedenen Stellen Nordafrikas bis zum Sinai. Tabaiba amarga heißen gleich zwei Arten. Auf den westlichen Inseln versteht man darunter Euphorbia lamarckii, deren zweiter Name an den großen Biologen Lamarck erinnert, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die erste Evolutionstheorie entwickelt hat, während auf den östlichen Inseln Euphorbia regis jubae erkennbar an den antiken mauretanischen König erinnert. Dass die Canarios beide Arten gleich bezeichnen, liegt nicht nur an ihrer äußerlichen Ähnlichkeit, sondern auch an ihrem bitteren Milchsaft.

Ritzt man eine Wolfsmilchpflanze an, quillt ein weißer Saft aus der Wunde, der sich an der Luft schnell zu einer an Kaugummi erinnernden Masse verfestigt. Tatsächlich wurde schon in vorspanischer Zeit der ungiftige, leicht süßliche Saft der Tabaiba dulce als Kaugummi genutzt, der sogar eine günstige Wirkung auf Zähne und Zahnfleisch gehabt haben soll. Die spanischen Eroberer übernahmen den Brauch, und bis in die 1960er-Jahre stellte eine Firma in Barcelona einen eigenen spanischen Kaugummi unter der Marke „Chicle Tabai“ her. Der Latex dazu wurde auf den Kanarischen Inseln gesammelt. Sammler ritzten die Stämme der Sträucher an, stellten ein kleines Gefäß darunter und verkauften ihre Ausbeute später der Firma. Der Saft wurde auch zum Abdichten von Holzbooten und sogar Weinfässern genommen. Hirten strichen damit die Zitzen der Ziegen ein, um mit dem ungewohnten Geschmack die Zicklein von ihrer Mutter zu entwöhnen. Tabaiba dulce erkennt man an den relativ kurzen, rundlich-breiten Blättern und der einzelnen Blüte oder Frucht am Ende der Zweige. Alle anderen Wolfsmilcharten unserer Inseln tragen dort mehrere Blüten oder Früchte.

Cardón und Tabaiba amarga sind so giftig, dass man früher gelegentlich Stücke von ihnen in Charcos an der Küste warf, um darin schwimmende Fische zu betäuben. Sie konnten dann von der Wasseroberfläche mit der Hand abgesammelt werden. Das Nervengift befindet sich in ihrem Latex, der auch die Haut nachhaltig schädigen kann. Bei Cardón kann der Saft so sehr unter Druck stehen, dass er kräftig hervorspritzt, wenn man die Pflanze verletzt. Gelangt er ins Auge eines Unvorsichtigen, soll er rasch eine Erblindung herbeiführen. Der Saft verschiedener Pflanzen (Cornical und Gomereta), die manchmal in der Nähe vorkommen, soll als Gegenmittel geeignet sein. Aber ungewiss ist, ob man die Pflanzen dort findet und schnell genug genügend Saft herausdrücken kann. Zumindest beim Cornical, der außerdem selbst sehr giftig ist, erscheint das fraglich. Und die Gomereta wächst nur im Anaga-Gebirge.

Versucht ein Tier, eine Wolfsmilchpflanze zu fressen, verklebt der austretende Latex schnell dessen Kauwerkzeuge. Ein wirksamer Schutz. Warum die meisten aus dieser Pflanzenfamilie darüber hinaus giftigen Latex besitzen, ist noch nicht geklärt. Aber klar ist: Er wirkt sehr schnell und schmeckt schlecht.

Cardón wird oft fälschlich für einen Kaktus gehalten. Er bildet keine Blätter. In seinen grünen Säulen findet die Fotosynthese statt. Seine Haut besitzt einen weißlichen Überzug aus Wachs. Das setzt die Wasserverluste durch unerwünschte Verdunstung herab. Es dient auch als Sonnenschutz, wie auch die Säulenform dazu beiträgt, dass die Pflanze bis auf ihre Spitzen den größten Teil des Tages nicht von der Sonne getroffen wird. Eine klare Anpassung an diese Umgebung.

Tabaibasträucher können das nicht. Wird die Sonne gegen Ende des Winters wieder stärker, werfen sie ihre Blätter ab und entgehen so ebenfalls Verbrennungsschäden. Auch das ist eine sehr wirksame Anpassung. Beide Pflanzengruppen aus der gleichen Familie erreichen ihr Ziel – Überleben in trockenheißer Umgebung – auf zwei grundverschiedenen Wegen. Divergenz nennt das der Fachmann.

Michael von Levetzow
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