Der Skandal des Kreuzes


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„Lichtblicke“ der deutschen Seelsorger auf Teneriffa – diesmal von Pfarrer Wolfgang Gerth, Evangelische Gemeinde Teneriffa Nord

Die älteste Darstellung einer Kreuzigung ist eine Karikatur: das Spottkruzifix vom Palatin in Rom (um 200 n. Chr.). Es zeigt einen Gekreuzigten mit Eselskopf, und die Inschrift höhnt: „Alexamenos betet Gott an“. Will sagen: Wer einen Gekreuzigten mit Gott in Verbindung bringt, hat einen Esel zum Gott und ist selbst ein Esel.

Das Kreuz, nach römischer Rechtspraxis Hinrichtungsinstrument für Sklaven und gemeine Verbrecher, nicht anwendbar auf römische Bürger, ist der Schandpfahl: „Verflucht ist, wer am Holze hängt!“

Paulus, der erste Theologe des Kreuzes, predigt Christus als den Gekreuzigten und weiß: Das ist für Juden ein Ärgernis, und für Griechen eine pure Torheit. So blieb es 300 Jahre lang – bis Konstantin, der Legende zufolge, „im Zeichen des Kreuzes“ militärisch erfolgreich und politisch siegreich, die Kirche des Gekreuzigten anerkannte, die Kreuzigungsstrafe abschaffte und mit der Kirche auch das Kreuz hoffähig machte. Aus dem Schandpfahl wurde ein Ehrenmal, aus dem Skandalzeichen ein frommes Symbol. So ist es bis heute gegenwärtig, in Kunst und Kitsch verbreitet, in Winkeln und auf Plätzen, in sakralen und profanen Räumen, als Orden auf dem Frack, als Schmuck am Halse, dem Establishment so vertraut wie den Gesellschaftskritischen, bei Demonstrationen so brauchbar wie bei Staatsakten.

Was soll hier überall das Kreuz? Ist unser Leben von ihm geprägt? Und unsere Gesellschaft? Und was hieße das? Warum geht „man“ am Karfreitag noch am ehesten in die Kirche? Warum kann man sich von Passionsmusiken von Bach bis Penderecki ergreifen lassen wie sonst von keiner Musik? Wird hier etwas verdrängt? Flüchten die der ständigen Aktion Müden in die schiere Passion? Wird hier Reverenz erwiesen einem Sündenbock, den jeder braucht und der hier billig zu finden ist: das „Lamm Gottes, das der Welt Sünden trägt“?

Welche Deutung verträgt das Kreuz? Dem Geschehen am nächsten kommt der in den beiden ältesten Evangelien bezeugte Ruf des Gekreuzigten nach dem Gott, der ihn verlassen hat. Dreimal bezeugt und so gut wie sicher ist, dass Jesus mit lauter Stimme schreiend gestorben ist: also nicht in der heiteren Gelassenheit eines Sokrates (lt. Phaidon). Und die Flucht seiner Anhänger beweist, wie wenig sie seine Exekution mit dem, was er wollte, in Einklang bringen konnten. 

Dieser Tod des INRI hat später viele Deutungen erfahren. Weil und nachdem sich der Gekreuzigte lebendig erwies, musste er verkündet werden. Aber bald geriet diese Verkündigung in den Bann erbaulicher Schlagworte und dogmatischer Theorien, oft auch ein etwas hilfloser Versuch, das Ärgernis des Kreuzes von Golgatha in ein wohlgeordnetes System des Glaubens zu bringen und ein zeitloses Symbol daraus zu machen. 

Das Kreuz zwingt uns, die Dinge beim Namen zu nennen und das anzuschauen, was es zu sehen gibt: die eigene Gottlosigkeit, die Einsamkeit, den Abschied, den Bruder, die Schwester in ihren banalen Nöten. 

Als im Jahr 1993 die archäologische Enttrümmerung der Ruine der Frauenkirche in Dresden begann, stieß man schon bald auf das herabgestürzte Turmkreuz. Es war ein bewegender Moment, als es aufgerichtet wurde. Man war dem Kreuz auf die Spur gekommen. Und man war Gott auf die Spur gekommen. Gott, der am Kreuz festhält. Gott, der am Kreuz bleibt. Gott, der das Kreuz nicht aufgibt. Entstellt und verkrümmt zeigt es die Grausamkeit des Krieges. In seiner deformierten Gestalt zeugt es vom Tod unzählig vieler Menschen. Von seinem ursprünglichen Glanz ist ihm nichts geblieben. Aber seine Botschaft ist umso klarer. 

Der Gott, der über dem Kreuz Jesu Christi schweigt und über soundso vielen Schreien gefolterter und verzweifelter Menschen immer wieder geschwiegen hat, ist doch der Lebendige, der dem ruft, was nicht ist, dass es sei – der unseren Glauben ins Leben ruft aus dem Nichts, damit wir dann hingehen und im Namen Jesu Christi das Nötige tun. 

Wolfgang Gerth

Evangelische Kirche

Gemeinde Teneriffa Nord

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