Europäischer Gerichtshof ordnet Freilassung von ETA-Terroristin an


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Empörung über mögliche Massenentlassung von Schwerverbrechern

Verletzt und aufgebracht zeigten sich die Hinterbliebenen der Opfer von Anschlägen der baskischen Terrororganisation ETA nach dem Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zur sogenannten Parot-Doktrin.

Madrid – Dieser hatte in zweiter Instanz ein Urteil der Kleinen Kammer bestätigt, demnach die Doktrin, die es ermöglicht, Schwerstverbrechern keine Haftverkürzung zuzubilligen, nicht rückwirkend angewandt werden darf.

Geklagt hatte das ETA-Mitglied Inés del Río. Seit 1984 Mitglied des „Kommandos Madrid“ wirkte die Terroristin  durch den Aufbau der Infrastruktur der Terrorgruppe und das Ausspähen der Opfer und Tatorte an zahlreichen Anschlägen mit und wurde zwischen 1989 und 2000 wegen insgesamt 24 Morden zu 3.828 Jahren Haft verurteilt.

Nach dem Strafrecht, das zur Zeit ihrer Verurteilung galt, hätte sie schon im Jahre 2008 nach 21 Jahren entlassen werden können, da die maximal mögliche Haftzeit von 30 Jahren durch Arbeit oder Ausbildung im Gefängnis verringert werden kann. Spanien wendete jedoch die nachträglich beschlossene Parot-Doktrin an und behielt del Río in Haft. Diese klagte vor dem Europäischen Gerichtshof und bekam nun zum zweiten Mal Recht. Schon am Nachmittag des darauffolgenden Tages kam sie frei. In Begleitung ihrer Anwältin und mehrerer Verwandter verließ del Río das Gefängnis Teixeiro in La Coruña, Nordspanien. Einer ihrer Begleiter hielt als Sichtschutz gegen Reporter und Neugierige die Ikuriña, die baskische Nationalflagge, hoch.

Die Sprecherinnen der beiden Organisationen der Opfer des Terrorismus, Fundación Victimas del Terrorismo und AVT, appellierten an den Staatsgerichtshof, gegenüber dem Europäischen Gerichtshof auf Augenhöhe zu handeln und die massenhafte Freilassung von Terroristen nicht zuzulassen. Nachdem beide im Regierungspalast, der Moncloa, mit dem Innen- und dem Justizminister zusammengetroffen waren, kündigten sie vor der versammelten Presse an, dass die Terroropfer zur Entlassung von weiteren 61 ETA-Terroristen, die durch die Parot-Doktrin noch im Gefängnis seien, nicht schweigen würden. Sie wiesen weiter darauf hin, dass Inés del Río nicht einmal ein Jahr für jedes ihrer Opfer abgesessen habe.

Am darauffolgenden Wochenende folgten Tausende Menschen dem Aufruf des AVT zu einer Kundgebung auf der Plaza de Colón in Madrid unter dem Motto: „Gerechtigkeit für ein Ende mit Siegern und Besiegten“. Dies bezieht sich auf die gescheiterten Verhandlungen zur Auflösung der ETA des früheren Ministerpräsidenten Jose Luis Zapatero. Eine Forderung der ETA war damals, die Parot-Doktrin abzuschaffen.

Dieser Wunsch der ETA ging nun in Erfüllung, ohne dass sie dafür ihre Waffen abgeben und sich auflösen mussten. Die Vorsitzende der AVT sagte in ihrer Rede: „Dass sie uns rachsüchtig nennen, wird uns nicht zum Schweigen bringen. Wir Opfer fordern Gerechtigkeit, nicht Rache.“

Auch wenn eine Mehrheit der spanischen Bürger, Richter und Politiker ähnlich fühlen mögen, so sind ihnen doch die Hände gebunden, will man nicht den Grundsatz der Rechtssicherheit und damit ein wichtiges Fundament des Rechtsstaates aufgeben. Und so wird dem Staatsgerichtshof nichts anderes übrig bleiben, als die unverzüglich eingereichten Entlassungsgesuche von 36 weiteren Häftlingen Fall für Fall zu prüfen und dem Urteil aus Straßburg entsprechend zu verfahren.

Zwei weitere Freilassungen hat es schon gegeben. Der berüchtigte ETA-Terrorist Antonio Troitiño, der für zahlreiche blutige Anschläge in den 80er- Jahren verantwortlich ist und in Großbritannien auf seine Auslieferung nach Spanien wartete, ist von der britischen Justiz schon auf freien Fuß gesetzt worden. Er war nach 24 Jahren Haft im Jahr 2011 entlassen worden und sollte mittels der Parot-Doktrin wieder eingesperrt werden, entzog sich jedoch seiner neuerlichen Verhaftung und wurde erst im Juni 2012 in London festgenommen.

Außerdem wurde durch den Staatsgerichtshof Juan Manuel Píriz López, der die Höchsthaftzeit schon fast abgesessen hat, freigelassen, als Erster, auf den die neue Rechtslage, die durch das Straßburger Urteil entstanden ist, angewandt wurde.

Neben verschiedenen berüchtigten ETA-Terroristen, haben auch einige Serienmörder und -vergewaltiger nun Aussicht auf baldige Entlassung. Beispielsweise Pablo Manuel García, der mit 26 Jahren wegen 74 Vergewaltigungen zu 1.721 Jahren Haft verurteilt wurde. Oder Miguel Ricart, der wegen Vergewaltigung und Mord an drei Teenagern in Alcácer Anfang der 90er-Jahre zu 186 Jahren verurteilt wurde.

Die Parot-Doktrin

Bis zur Strafrechtsreform von 1995 wurde in Spanien noch das Strafrecht der Franco-Ära von 1973 angewandt, mit Ausnahme der Paragraphen, die nicht verfassungskonform waren.

Nach diesem Recht konnten Strafgefangene durch Arbeit (oder Ausbildung) im Gefängnis ihre Haftzeit verkürzen, um einen Tag je zwei Tage Arbeit. Außerdem war die maximale Haftzeit auf 30 Jahre festgelegt, unabhängig vom ergangenen Urteil. In der Praxis wurde die erarbeitete Haftverkürzung immer von den maximal möglichen 30 Jahren abgezogen, auch bei Delinquenten, die wegen schwerster Verbrechen zu mehreren Hundert oder gar Tausend Jahren verurteilt waren.

2006 änderte der Oberste Gerichtshof die Interpretation des Strafrechts von 1973, das bei Straftaten, die vor 1995 begangen wurden, immer noch Anwendung findet. Ab dieser Zeit, wurden Haftverkürzungen von der tatsächlich verhängten Strafe abgezogen, sodass Verurteilte mit sehr hohen Haftstrafen immer die volle Höchsthaftzeit von 30 Jahren absitzen müssen. Diese neue Interpretation ist unter dem Namen „doctrina Parot“ bekannt, benannt nach dem ETA-Terroristen Henri Parot, da sie anlässlich seines Revisionsantrages entstand.

Aktuell beträgt die maximale Haftzeit, je nach Delikt zwischen 20 und 40 Jahren. 20 Jahre ist das normale Maximum, 40 Jahre gelten für Mehrfachtäter und Terroristen, die sehr schwere Straftaten begangen haben.

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