Gedanken für mich – Augenblicke für Gott
Erinnern Sie sich? Vor knapp zehn Jahren wurde die Göttinger Familie Wallert – zusammen mit 19 anderen Urlaubern und Hotelangestellten – von der islamisch-fundamentalistischen Rebellengruppe Abbu Sayyaf entführt und über vier Monate auf der philippinischen Insel Jolo festgehalten.
Nach der Befreiung sagte Werner Wallert in die Mikrophone der wartenden Journalisten: „Wir haben im Camp oft miteinander gebetet und das war etwas ganz, ganz Wichtiges.“ Diesen Satz hat man nie irgendwo in der Weltpresse lesen können. Beten? Das ist ja auch nicht interessant. Wer betet, der verrät doch damit nur, dass er nicht der Macher ist, sondern dass er sein Lebensschicksal in die Hände eines anderen legt.
Ja, beten setzt den Glauben an Gott voraus. Nun ist unter vielen jungen Menschen dieser Glaube faktisch zusammengebrochen, nicht mehr existent. Die große Zahl derer, die sich heute z.B. noch zum Gottesdienst versammelt, beweist mir leider nicht das Gegenteil einer solchen Behauptung. Desweiteren ist nachzulesen, dass ein Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung nicht mehr an ein Leben nach dem Tod glaubt bzw. eine große Anzahl von Menschen den Glauben sowieso nur für eine Illusion hält. Was aber bedeutet das? Wenn es keinen Gott gibt und keinen Glauben, dann gibt es doch letztlich auch keine Verantwortung, und alles, was eine oder einer tut oder auch lässt, das ist am Ende einfach nichts wert. Kann aber eine solche Einschätzung ohne Folgen bleiben?
Ein Buch des bekannten Tübinger Religionspädagogen und diakonischen Mitbruders von mir, Prof. Dr. Albert Biesinger, trägt den Titel: „Kinder nicht um Gott betrügen“. Darin geht es u.a. um die Erkenntnis, dass moderne Eltern ihre Kinder um Gott betrügen, weil sie selber schon um Gott betrogen wurden. Die negativen Folgen davon sind aber an unserer Gesellschaft abzulesen: Wir stellen zum einen zerstörerische Aggressionen fest, die weit über das hinausgehen, was man „pubertierendes Kräftemessen“ nennt. Nein, was heute, gerade bei Jugendlichen passiert, das sind oft menschenverachtende Gewalttaten. Das Gift des theoretischen und auch des praktischen Atheismus zeigt hier seine Wirkung. Die reine Diesseitigkeit – also die Vorstellung, es bliebe uns am Ende nichts – die macht Angst. Angst und Hoffnungslosigkeit aber erzeugen oftmals Gewalt. Wer sich selbst nichts wert ist, für den ist auch das Leben eines anderen Menschen ohne Bedeutung. Und genau an dieser Einsicht drücken sich viele politische Verantwortliche vorbei, wie wir es nicht nur an der derzeitigen Integrationsdebatte erleben.
Zum anderen, und auch das gilt, so denke ich, für den gesamten deutschsprachigen Raum, muss die praktische Gottlosigkeit mit neurotischen Störungen bezahlt werden. Mit gefährlichen Verhaltensänderungen, die bis zur Unfähigkeit reichen, stabile Beziehungen einzugehen und durchzuhalten. Wer unfähig zu einer Bindung an Gott gemacht wurde, wer sich deswegen nicht verantwortlich weiß für das, was er oder sie tut und lässt, der oder die braucht sich auch nicht zu wundern, wenn die mitmenschlichen Beziehungen scheitern und die Bindungen nicht halten.
Gottesnähe und auch Gottesferne sind Knotenpunkte unserer je eigenen Lebensgeschichte. Die Gottesferne zwingt uns dabei in den Glauben an das namenlose Schicksal, in den Glauben an den blinden Zufall, in den Glauben, dass mit dem Tod eben alles aus und vorbei sei. Dann hat der Mensch halt alles allein zu tragen: Sein Pech, sein Versagen, seine Krankheit, sein Schuld, sogar noch seinen Spaß und seine Lust. Alles ist nur noch so viel wert, wie es ihn selber trifft und betrifft. Es entsteht eine geradezu tödliche Abhängigkeit.
Wie das zu lösen ist? Das ist in meinen Augen die Frage nach dem Mehrwert des Glaubens. Ich behaupte, dass die Botschaft des Evangeliums die Gottesferne und die Fremdheit überwinden kann. Das Problem ist dabei nur, ob die Jüngeren die Kraft haben, ihren eigenen Glaubensweg zu suchen und zu gehen und die Älteren den als richtig erkannten Weg immer wieder überprüfen. Ob wir alle uns bewusst den religiösen Anfragen und der Verantwortung vor Gott stellen oder ihnen ausweichen. Ob wir das vom Evangelium leben, was wir davon verstanden haben, oder ob wir in der allgemeinen Resignation stecken bleiben.
Schon allein die Frage nach Gott befreit zum Leben. Er hat jedem und jeder von uns einen ganz einmaligen Lebensauftrag gegeben. Gott, das ist der Schatz, den wir Christen zwischen Angst und Hoffnungslosigkeit, zwischen Gewalt und Ungerechtigkeit anzubieten haben. Diese Erfahrung, dass ein ferner, unbegreiflicher Gott uns in Jesus Christus ganz nahe gekommen ist, das ist der christliche Mehrwert, den wir – ganz ohne Überheblichkeit gesagt – allen anderen Religionen voraushaben. Es ist ein Wert, der durch alle Ereignisse des Lebens zu tragen vermag. Daran glaube ich und darauf vertraue ich.
Ihr
Bertram Bolz, Diakon
Kath. Touristen- und
Residentenseelsorger
Diesen und frühere Artikel können Sie nachlesen unter: www.katholische-gemeinde-teneriffa.de oder www.wochenblatt.es
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