Totgeglaubten Sohn in Las Palmas gefunden

Am 24. Oktober fand erneut eine hochdramatische Rettungsaktion nahe der Kanaren statt. Ein Seenotrettungskreuzer kam 50 Migranten zur Hilfe, die 200 Kilometer südöstlich von Gran Canaria in einem Boot gesichtet wurden. Zwei Babys und vier weitere Kinder sowie zwei Erwachsene wurden per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Eines der Kinder überlebte nicht. Foto: EFE

Am 24. Oktober fand erneut eine hochdramatische Rettungsaktion nahe der Kanaren statt. Ein Seenotrettungskreuzer kam 50 Migranten zur Hilfe, die 200 Kilometer südöstlich von Gran Canaria in einem Boot gesichtet wurden. Zwei Babys und vier weitere Kinder sowie zwei Erwachsene wurden per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Eines der Kinder überlebte nicht. Foto: EFE

Marokkanerin reiste aus Italien an, als sie erfuhr, dass ihr Sohn zu den Überlebenden einer Patera gehört

Gran Canaria – Fátima stammt aus Oued Zem, einem kleinen Ort in Marokko. Als sie vor zwölf Jahren verwitwete, zog sie nach Italien und arbeitet seitdem dort als Putzhilfe und Pflegekraft. Ihre beiden Kinder ließ sie bei ihrer Mutter in ihrer Heimat zurück. Sie besuchte dort regelmäßig ihre Familie, und von ihrem hart erarbeiteten Geld schickte sie monatlich einen Teil nach Marokko. Sie wollte ihren Kindern eine bessere Zukunft sichern. „Dafür arbeite ich seit zwölf Jahren legal in Italien“, erzählte sie jetzt einer Zeitung in Las Palmas. Im nächsten Jahr wollte Fátima die italienische Staatsbürgerschaft beantragen und ihren jüngeren Sohn Soukrat zu sich holen.

Der junge Mann hatte jedoch andere Pläne. Wie so viele Jugendliche aus Marokko begab er sich auf den gefährlichen Weg über das Meer in Richtung Kanaren. Die 2.500 Euro für die Überfahrt, welche die Schlepper verlangten, lieh er sich von einer Tante, der restlichen Familie nahm er das Versprechen ab, seiner Mutter nichts von seiner Entscheidung mitzuteilen.
„Ich melde mich, sobald ich ankomme“ versprach er beim Abschied. Doch die Tage vergingen ohne den ersehnten Anruf. So blieb den Verwandten nichts anderes übrig, als Fátima über die fatale Entscheidung ihres Sohnes zu informieren. Ihre Verzweiflung und Angst waren groß, denn man hatte ihr gesagt, alle, die in der Partera waren, seien tot angekommen.
Nach achtzehn endlosen Tagen erhielt sie den Anruf eines Freundes, der gemeinsam mit Soukrat die Patera bestiegen hatte. Von den 34 Insassen waren zehn während der Überfahrt gestorben. Fátimas Sohn musste bei der Ankunft mit einem Hubschrauber evakuiert werden, so schlecht war sein Zustand. Weitere Information bekam sie nicht.

Kurz entschlossen flog die verzweifelte Mutter von Mailand nach Gran Canaria. Dort nahm sie ein Zimmer in einer kleinen Pension und verbrachte die Tage vor dem Eingang des Krankenhauses, in das ihr Sohn gebracht worden war. Auch Tränen und Bitten konnten Ärzte und Pflegepersonal nicht dazu bringen, sie zu Soukrat zu lassen, der auf der Intensivstation um sein Leben kämpfte. Auch nachdem er nach einiger Zeit auf die Station verlegt wurde, war ein Besuch wegen der Covid-19-Maßnahmen nicht erlaubt. Dennoch übergaben die Pfleger dem Jungen einen Schlafanzug, saubere Kleidung und ein Telefon, das Fátima für ihn dabeihatte. Bei ihrem ersten Video-Gespräch erkannte die Mutter ihr Kind kaum wieder. Als sie sein verbranntes Gesicht sah und seine schwache Stimme hörte, brach sie in Tränen aus. Ein verwirrter junger Mensch, der nicht verstand, warum seine Mutter ihn nicht umarmen durfte.

Bei guten Witterungsbedingungen dauert die Überfahrt der Migranten-Boote, den sogenannten Pateras, etwa vier Tage. In diesem Fall ging der Treibstoff bereits weit vor dem Ziel aus, und die Insassen des kleinen Bootes waren ihrem Schicksal und den Strömungen ausgesetzt. Wasser und Lebensmittel gingen zu Ende, sodass sie ihren Urin in den leeren Wasserkaraffen sammelten und ihn mit Meerwasser und Zahnpasta vermischten, um den unerträglichen Geschmack etwas zu verändern, wie sie später den kanarischen Behörden berichteten.
Zum gleichen Zeitpunkt, als Fátimas Sohn seine gefährliche „Reise“ begann, stachen zwei weitere Pateras von Dajla aus in See. Seither ist mehr als ein Monat vergangen, ohne dass die Familien Nachrichten von ihren Lieben erhalten haben.

In den ersten neun Monaten dieses Jahres sind laut Schätzungen der Internationalen Migrationsbehörden mindestens 785 Menschen auf ihrem Weg von Marokko zu den Kanarischen Inseln gestorben oder verschollen.
Trotz der großen Ungewissheit und der Gefahr, das Traumziel nicht zu erreichen, nimmt der Migrationsstrom nicht ab. Bis dato hat sich die Zahl der Menschen, die das Meer und seine Gefahren in einem Holzboot für eine bessere Zukunft herausfordern, im Vergleich zum Vorjahr um 135 Prozent erhöht.

Fátimas Sohn hat die Überfahrt überlebt und erholt sich von ihren schweren Folgen. Das Ausmaß der seelischen Verletzungen, die ihn lebenslang begleiten werden, ist wohl kaum einzuschätzen. Und der Schmerz seiner Mutter, dass sie ihren Sohn, der nun als illegaler Immigrant in Spanien registriert ist, schwerlich zu sich nach Italien holen kann, ist sicher maßlos. „Das ist die Ungeduld der jungen Menschen“, sagt sie traurig.

Der Migrationsstrom reißt nicht ab

Die Geschichte von Soukrat und seiner Mutter Fátima sind nur eines von unzähligen persönlichen Schicksalen vor dem Hintergrund der Ankunft immer neuer Boote mit Migranten vom afrikanischen Kontinent.
Am 24. Oktober spielten sich wieder einmal tragische Szenen an Bord eines Seenotrettungskreuzers ab. Als die Besatzung der „Guardamar Polimnia“ 50 afrikanische Migranten an Bord nahm, stellte sie fest, dass einige der völlig entkräfteten Menschen in sehr schlechtem Gesundheitszustand waren. Ihr Boot war gesichtet worden, als es etwa 200 Kilometer südwestlich von Gran Canaria im Atlantik trieb. Aufgrund ihres äußerst besorgniserregenden Zustandes wurden zwei Babys, vier weitere Minderjährige und zwei Erwachsene mit einem Hubschrauber nach Gran Canaria gebracht. Eines der Kinder starb kurze Zeit später im Krankenhaus. Die anderen Insassen des Bootes wurden mit der „Guardamar Polimnia“ in den Hafen von Arguineguín gebracht, wo sie von Helfern des Roten Kreuzes und Mitarbeitern des kanarischen Gesundheitsdienstes erstversorgt wurden.

Wenige Tage später, am 30. Oktober trafen innerhalb von 24 Stunden 171 Personen auf Fuerteventura ein. Über 50 dieser Menschen, die die Überfahrt geschafft hatten, mussten die Nacht im Hafen von Puerto del Rosario im Freien verbringen, weil die Aufnahmekapazität der Flüchtlingsunterkünfte erschöpft war. Einem Bericht der Nachrichtenagentur EFE zufolge waren unter ihnen auch 12 Frauen, drei davon schwanger, und drei Minderjährige.

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