Wandern und Entdecken

Michael von Levetzow

Gruben und Wächter

Señor García de Morales hatte an der Eroberung Teneriffas teilgenommen. Sein Vorname scheint nicht überliefert zu sein. Immerhin erhielt der Veteran im Jahr 1503 als Belohnung für seine Dienste ein bewaldetes Landstück oberhalb des Dorfs Tacoronte zugesprochen. 80 Fanegadas, etwa 42 Hektar war es groß und besaß eine sehr ergiebige Quelle mit gutem Trinkwasser. Sie gab dem Ort seinen Namen: Agua García. Siedler ließen sich dort nieder und rodeten den Lorbeerwald, um Land für den Anbau von Feldfrüchten und Zuckerrohr zu gewinnen. Der Lorbeerwald lieferte ihnen Material für ihren Alltag: Leichtes, aber stabiles Holz bekamen sie vom Kanarischen Lorbeerbaum und stellten daraus die Stiele ihrer Arbeitsgeräte für den Ackerbau her. Baumheide wurde zu Holzkohle verarbeitet. Das braune Holz des Viñátigo, des „kanarischen Mahagoni“, war als Möbelholz geschätzt. Nach und nach wurde die untere Grenze des Lorbeerwaldes um rund 500 m nach oben verschoben und liegt heute bei 900 m über dem Meer. Noch immer reichen die Äcker bis an den alten Waldbestand heran. Teile des Waldes von Agua García zählen zu den besterhaltenen Lorbeerwäldern Teneriffas und beeindrucken durch ihre zahlreichen uralten und hochgewachsenen Bäume. Unübersehbar sind aber auch die Bereiche, in denen der Wald sich das Terrain zurückerobert, wo die Bäume noch weniger mächtig erscheinen. Insgesamt gehört dieser Wald zum Besten, was Teneriffa an Lorbeerwald zu bieten hat. Er ist zudem leicht erreichbar. Am Ortsrand von Agua García wurde ein Informationszentrum eingerichtet. Leider ist es nur an einigen Wochentagen vormittags geöffnet. Die verschiedenen Wege von hier aus lohnen sich dennoch.

Neben dem Informationszentrum beginnt ein weitgehend horizontal verlaufender, rollstuhlgerecht ausgebauter Weg, den wir ignorieren. Wir werden auf ihm zurückkehren. Links davon führt eine breite Piste aufwärts in den Wald. Talseitig ist sie mit einem soliden Holzgeländer versehen; denn die Hänge hinab in den Barranco sind ziemlich steil. Auf diesem ersten Wegstück können wir einige lorbeerwaldtypische Baum- und Straucharten entdecken: kanarischen Lorbeer und zahlreiche einheimische Ilex (Stechpalmen). Wir können die schmalblättrige Art (Ilex canariensis), deren Blätter im Gegensatz zum deutschen Ilex nur selten kleine Zähne am Rand aufweisen, von der breitblättrigen Art (Ilex perado) leicht unterscheiden. Letztere hat häufiger gezähnte Blattränder. Hin und wieder steht dazwischen auch ein Delfino (Pleiomeris canariensis), der an seinen sehr großen, bis zu 20 cm langen Blättern gut zu erkennen ist. Breitere und deutlich behaarte Blätter charakterisieren den Kanarischen Schneeball. Früher, als Papier selten war, dienten sie der Bevölkerung als „Toilettenpapier“.

Nach einem kurzen Anstieg führt der Weg horizontal in den Barranco de Toledo hinein. Hier finden wir mächtige Bäume mit ungewöhnlichen Stämmen. Im unteren Teil sind sie sehr dick und können Umfänge von zehn oder mehr Metern erreichen. Nach oben, wenige Meter über dem Boden, entspringen diesen Monstren mehrere ziemlich große Bäume. Jeder einzelne von ihnen könnte selbst ein repräsentabler Baum in diesem Wald sein. Um das ganze Ensemble herum wachsen zahlreiche Schösslinge unterschiedlicher Dicke aufwärts und vervollständigen das Bild. Gegen diese Riesen wirken die großen alten Drachen- und Kiefernbäume der Insel klein geraten. Es sind Viñátigos (Persea indica). Ihr genaues Alter ist unbekannt und nicht genau bestimmbar. Die Schätzungen reichen von 500 bis zu 1000 Jahren. Der Volksmund nennt sie „Guardianes Centenarios“, die hundertjährigen Wächter. Wie alle Lorbeerwaldbäume sind sie immergrün. Während des ganzen Jahres treiben sie neue Blätter und werfen alte ab. Oftmals färben sich die Blätter vor dem Abfallen erst gelb und dann orangerot – ein typisches Kennzeichen des Viñátigo. Obwohl die Art zur gleichen Familie wie der Avocadobaum gehört, sind ihre Früchte klein und werden nicht genutzt. Man sollte sie besser nicht essen. Es wurde beobachtet, dass Ratten, die davon gefressen hatten, danach bewusstlos vom Baum gefallen sind. Andererseits sind die Früchte eine begehrte und wichtige Nahrung der seltenen Lorbeerwaldtaube, die damit gleichzeitig für die Verbreitung der Viñátigos sorgt.

Michael von Levetzow

Am hinteren Ende des Barrancos gabelt sich der Weg. Nach links führen Stufen aufwärts. Nach rechts setzt sich der pistenähnliche Weg fort, dem wir später folgen werden. Aber zuerst gibt es nach links nicht nur den größten und vermutlich auch ältesten Viñátigo der Region zu bestaunen, sondern auch eine Anzahl künstlicher Höhlen, die hier in den Felsen getrieben wurden. Es sind alte, nicht sehr tiefe Stollen, in denen in Handarbeit vom 16. bis ins 20. Jahrhundert Rohstoff zur Herstellung von Glas gewonnen wurde. Eine kleine Glashütte in La Laguna wurde damit beliefert. Das Gestein, das hier abgebaut wurde, ist Trachyt, eine Lavasorte mit hohem Kieselsäuregehalt, dem Rohmaterial für die Glasherstellung. Anscheinend wurden auch Weinflaschen daraus gefertigt. Die Höhlen sind teilweise untereinander verbunden und bilden ein kleines, aber übersichtliches Labyrinth. Mit einer Taschenlampe können wir es erkunden und an den Wänden die Spuren sehen, die die Hacken der Bergarbeiter dort hinterließen: große konzentrische Bögen im Abstand weniger Zentimeter.
Wir könnten dem eingeschlagenen Weg weiter folgen und einen deutlich größeren gut markierten Rundweg erwandern. Gehen wir aber zurück und folgen dem Weg nach rechts bis fast zum Waldrand, treffen wir dort auch auf die Markierung eines kleinen Wanderweges, der uns über zahlreiche Stufen abwärts in den Barranco führt, wo wir auf den breiten horizontalen Weg treffen, der uns zum Informationszentrum zurückbringt. Dort gehen wir noch an einigen Guardianes Centenarios und einem kleinen gemütlichen Rastplatz vorbei, an dem wir noch mehr Bäume des Lorbeerwaldes entdecken können, darunter auch Madroños, Kanarische Erbeerbäume.

Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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