Willst du immer weiter…
„Die Luft schmeckt blau, als ich nach anderthalb Monaten des Eingesperrtseins das Haus verlasse. Ich fühle mich frei und muss aufpassen, nicht zu springen. …“ Ein guter Freund, einer der Pioniere des Wanderns auf Teneriffa, schrieb mir einen persönlichen Bericht über seinen ersten Spaziergang nach der Quarantäne, den er mit diesen poetischen Worten einleitete. Zwei Seiten voller bildreicher Prosa über das, was er schon fast sein ganzes Leben gesehen, aber jetzt neu wahrgenommen hat. Nach Corona zeigen sich vertraute Orte neu und anders. „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.“ Ein Vers, einst von Goethe zu Papier gebracht, ging mir immer wieder durch den Kopf, als wir auf dem Heimweg von unserem zweiten kurzen Corona-Ausflug waren. Der erste Tag mit Erleichterungen hatte uns in den Ort geführt. Puerto de la Cruz war fast menschenleer – ich weiß nicht, ob ich das schon einmal an einem sonnigen Vormittag so erlebt habe. Der zweite Tag galt dem Nahen. Dem bekannten Neuen.
Ich lebe in der Nähe eines erloschenen kleinen Vulkans, der Montaña de la Arena. Sein halbrunder Krater öffnet sich nach Nordosten, von wo die stetigen Passatwinde wehen. Als er aktiv war und emporwuchs, bliesen die gleichen Winde, nahmen die in die Luft geschleuderten Lavastücke einige Meter mit und formten so das Hufeisen der Kraterwände. Sie sind stark verwittert und von einer Pflanzendecke überzogen. An seinem Fuß entspringt ein nach Norden führender breiter Lavarücken. Überwiegend ist er heute mit Häusern und Gärten bedeckt. Nur an wenigen Stellen zeigt sich noch seine ursprüngliche Pflanzengesellschaft, ein typischer Cardonal-Tabaibal – Pflanzen, die Hitze und Wassermangel ertragen können. Auf ihm befindet sich der Taoro-Park. Ziel unseres Ausfluges und fast schon das Ende der uns momentan erlaubten Welt.
Keine schlechte Wahl; denn aus unserer Richtung gilt es zuerst einen steilen Anstieg durch den Park von La Atalaya zu bewältigen, dem Aussichtspunkt, von dem die Einwohner Puertos einst nach Schiffen ausschauten. Später bauten sie zu diesem Zweck Türme bei ihren Häusern. Einige davon können wir im Aufsteigen über den Dächern des alten Ortskerns entdecken. Man erkennt nicht, dass wir hier einen ehemaligen Küstenfelsen emporsteigen. Bevor die Montaña de la Arena ausbrach, reichte der Atlantik bis an den Fuß dieser Klippe. Dann kam der Lavastrom, fiel über die steilen Felsen hinunter, drängte das Meer zurück und schuf die Plattform, auf der sich heute große Teile der Stadt erheben. Ursprünglich reichte das neue Festland weiter hinaus, denn zur Zeit des Ausbruchs lag der Meeresspiegel weltweit wegen der Eiszeiten niedriger. Die damalige neue Küstenlinie befindet sich aktuell mehrere Dutzend Meter unter Wasser und teilweise mehr als 100 m vom Ufer entfernt.
So schön der Atalaya-Park mit seinen zahlreichen Blumen, Sträuchern, Bäumen und Zierbrunnen ist, wir wollten hinauf und sparten uns diese Eindrücke für den Rückweg oder einen weiteren Ausflug auf. Nach siebenwöchiger Zwangspause ließ unser Bewegungsdrang nichts anderes zu. Wir umrundeten das Taoro-Hotel, momentan eine große Baustelle, die dem palastähnlichen Gebäude seinen früheren Glanz in moderner Form zurückgeben soll. Ob sie auch den „französischen“ Garten rekonstruieren, der einst zwischen den bergwärts gerichteten Seitenflügeln angelegt worden war?
Der Parque Taoro wurde vor 130 Jahren als „englischer“ Garten angelegt – im Gegensatz zum „französischen“ Garten mit streng geordneten Rabatten. Wie zufällig verteilte man Gruppen von Bäumen und Sträuchern über die Landschaft und schuf individuelle, sehr verschiedene Elemente auf dem erstarrten Lavastrom. An wenigen Stellen ist das ehemalige Malpaís zusammen mit seiner ursprünglichen Vegetation sichtbar geblieben. Auch das passt gut zu „englischen“ Gärten. Für mich ist die Vielfalt exotischer Bäume und Sträucher hier das Herausragendste. Wir planten, die vielen Wege immer wieder neu aneinanderzureihen, um so den Eindruck einer kleinen Wanderung zu spüren, bevor sich unser erlaubtes Zeitfenster für diesen Tag wieder schloss. Rasch wurde etwas anderes daraus; denn Blüten, Düfte, Blätter, Stämme und Baumrinden fesselten uns. Aus allen Ecken des ehemaligen spanischen Weltreiches und noch darüber hinaus hat man hier Bäume angepflanzt, ursprünglich sollen es mehrere Tausend gewesen sein.
Die Schöpfung – hier im Kleinen eines angelegten, teilweise rekonstruierten Parks – ist so bunt wie eh und je und erstaunt trotzdem.
Federige rote, gelbe, orange Blüten der Leguminosen, Myrtengewächse, Proteaceen leuchten von Weitem und bezaubern aus der Nähe durch ihre Luftigkeit. Dazwischen Palmen, Baumfarne, Yuccas. Meine besonderen Favoriten sind Australier. Zum einen Glücksbäume (Brachychiton acerifolius) mit großen glockenförmigen roten Blüten und einem etwas flaschenförmigen, unverwechselbaren Stamm. Sie stehen an der Wegkreuzung nordöstlich des anglikanischen Pfarrhauses. Zum anderen Strandkiefern, die noch etwas weiter östlich davon gepflanzt wurden und eigentlich keine Kiefern sind, obwohl sie lange grüne Nadeln zu tragen scheinen. Bei genauerem Hinsehen zeigen sie eine Feinstruktur, die an Schachtelhalme erinnert. Und genauso lassen sie sich auch auseinanderziehen. Was sich da so leicht abzupfen lässt, sind weder Nadeln noch Blätter, sondern sehr dünne Zweige. Die richtigen Blätter sind zu winzigen Gebilden verkleinert, etwas für Lupen. Sie befinden sich in Wirteln dort, wo sich die Zweigabschnitte voneinander trennen lassen. Zweige, die wie Nadeln aussehen und wie Schachtelhalme trennen lassen, sind ungewöhnlich. Sie erinnerten die ersten Botaniker, die sie erforschten, an das eigenartige Gefieder von Kasuaren, einer Art australischer Strauße, und nannten die Bäume deshalb Casuarina.
„Lerne nur das Glück ergreifen“, beendete Goethe seinen eingangs erwähnten Vierzeiler; „denn das Glück ist immer da.“ – So war es.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top