Am Tiro del Guanche
Drei lange Jahre schon hatte auf Teneriffa die Erde immer wieder gebebt, als sich schließlich am 9. Juni 1798 in der Südwestflanke des Pico Viejo eine Längsspalte öffnete. Anfangs bestand sie aus drei übereinanderliegenden Kratern, die noch heute gut sichtbar sind. Aus dem obersten entwichen vor allem große Wolken, der mittlere schleuderte Feuergarben und glühende Lavafetzen in die Luft, während dem untersten flüssige Lava entströmte und in Richtung der Steilwände des Hufeisens aus Felsen und Geröll hinabfloss, das die Cañadas del Teide am Fuß des zweithöchsten Vulkans der Insel begrenzt. Weitere Austrittsöffnungen entstanden darunter in den Wochen danach und spuckten ebenfalls Lavaströme aus. Nur an einer Stelle erreichten diese die Felsen des Hufeisens, während sie davon abgesehen einige wenige oder einige Dutzend Meter davor zum Stillstand kamen. Nach etwas mehr als drei Monaten endete die Eruption. Seitdem bedeckt ein zwischen sechs und zehn Meter dickes Paket aus dunkler, sehr grober und praktisch unwegsamer Lava einen guten Teil dieses Gebiets. Heutzutage wird es nur von der Straße zwischen Chio und Boca de Tauce durchquert. Im Zwischenraum zwischen den Lavazungen und der Felswand gibt es außerdem einen der vielseitigsten Wanderwege des Nationalparks. Er stellt die einzige Möglichkeit dar, dieses Terrain zu erkunden. Mit viereinhalb Kilometern Länge und fast steigungsfrei kann man ihn schnell hinter sich bringen. Dabei gibt es hier weit mehr wahrzunehmen als das großartige Panorama aus Pico del Teide und Pico Viejo – und benötigt dann einige Stunden mehr.
Der Weg beginnt beim kleinen Museo Juan Évora, dessen Besuch wir uns gerne für die Rückkehr aufsparen können. Es informiert nicht über den Weg und seine Besonderheiten, sondern über das Hirtenleben von früher auf dem Gebiet des heutigen Nationalparks. Mit etwas Glück bekommen wir hier einen Parkplatz, ansonsten müssen wir bei der nahe gelegenen Straßenkreuzung parken. Noch auf dem Parkplatz informiert uns eine mehrsprachige Tafel zu dem schon erwähnten letzten Vulkanausbruch auf dem Gebiet des Nationalparks. Von da an sind wir auf unsere Augen und auf unser mitgebrachtes Wissen angewiesen. Jetzt, im Spätherbst, befindet sich die Pflanzenwelt des Hochgebirges längst in der Winterruhe. Erst ab Mai malen Blüten wieder die Landschaft bunt. Herbst und Winter sind die Zeit, vorwiegend die Gesteine und ihre Botschaften zu entdecken.
Links des Weges ragen helle, rötliche Mauern aufwärts. Wo wir sie berühren können, haben sich ihnen gegenüber, rechts des Weges, die dunklen Laven von 1798 herangeschoben. Sie sind jetzt 222 Jahre alt. Ihre Flächen sind noch unverwittert und fast frei von Flechtenbewuchs. Alle Kanten sind noch scharf. Die hellen Wände gegenüber jedoch sind dicht mit Krustenflechten besetzt, stärker verwittert und gerundet. Kein Wunder, mit zwei bis zweieinhalb Millionen Jahren sind diese Gesteine mehr als zehntausendmal so alt wie die dunklen Blöcke gegenüber und immer noch mehr als zehnmal so alt wie der Pico del Teide im Hintergrund. Sie stammen von dessen Vorgängervulkanen, die vor knapp zweihunderttausend Jahren nach Norden ins Meer rutschten. Seitdem sind die Felsen der alten Abbruchkante der Witterung ausgesetzt. An kaum einem anderen Ort der Insel ist der Gegensatz zwischen alt und neu, zwischen Aufbau und Abbau so krass wie hier zu sehen.
Wo die Steilwand nach links zurückweicht, schützen neuerdings Zäune das Gelände vor dem Betreten durch unerwünschte Besucher. Schließlich wächst dort Bencomia exstipulata, eine der seltensten Pflanzen der Erde, und soll sich ungestört wieder ausbreiten können. Wahrscheinlich lag ihr früheres Hauptverbreitungsgebiet dort, wo 1798 die unfruchtbare junge Lava die Ebene zugedeckt hat. Sie ist ein Hochgebirgsspezialist und kann in tiefer gelegenen Inselregionen nicht überleben.
Bald muss der Weg den Lavastrom überqueren; denn kurz vor uns, bei einem hoch aufragenden Felszacken hat seine Lava die Steilwand berührt und verhindert das Durchkommen. Die Schlacken geben einen kratzenden, scharfen Ton von sich, während wir über sie hinweglaufen. Das liegt an dem vielen vulkanischen Glas, das in ihnen beim Abkühlen der flüssigen Lava entstanden ist. In der Wand des Felszackens können wir einige helle Flecken entdecken: Vor siebzig Jahren nisteten hier noch Geier und hinterließen ihren Kot an den Plätzen, an denen sie sich aufhielten.
Jenseits des Lavastroms besteht der Untergrund aus glatter dunkler Lava mit zahlreichen darin eingeschlossenen hellen Kristallen. Je weiter wir jetzt gehen, um so größere damit bedeckte Felder tun sich auf. Diese Lava stammt aus der Anfangszeit des Pico Viejo und ist etwa 27.000 Jahre alt. Sie bedeckte einst das gesamte Gebiet bis zu den Roques de García. Später wurde sie durch mehrere Ausbrüche teilweise von gröberer Lava zugedeckt. Zuletzt 1798. Was heute praktisch nicht begehbar ist, war bis dahin eine sanfte Ebene, auf der die Guanchen, die Ureinwohner der Insel, ihre Herden weiden ließen. Von den Guanchen wird berichtet, sie seien hervorragende Steinewerfer gewesen. Bei der Niederlage von La Matanza der spanischen Eroberer spielte diese „Artillerie“ eine entscheidende Rolle. Es heißt, hier, wo jetzt die frische Lava liegt, habe sich ein Übungs- und Trainingsgelände für den Steinwurf befunden. Dabei soll es weniger um horizontale Weitwürfe gegangen sein, sondern um vertikale Würfe in die Höhe. Das Ziel dabei war den Berichten zufolge, einen Stein über die Felszinne zu werfen, die wir gerade umgangen haben. Sie überragt unsere Ebene um mehr als 100 m. Kaum vorstellbar, dass jemand einen Stein darüber werfen konnte. Aber so wird es berichtet. Jedenfalls heißt die Felsspitze „Tiro del Guanche“ – der Wurf des Guanchen.
Der Weg endet beim Parkplatz mit dem Mirador de las Narices del Teide. Einen Rundweg zurück gibt es nicht. Aber der Rückweg ist nicht weniger abwechslungsreich. Es bleibt genug zu entdecken, was hier aus Platzgründen nicht geschildert werden kann.
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Michael von Levetzow
Tenerife on Top