Wandern und Entdecken

© Michael von Levetzow

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Schnee in der Sonne

„Nivaria“, die Verschneite, nannten vor 2000 Jahren die Römer die größte und höchs-te der Insulae Fortunatae, der glücklichen Inseln und meinten damit Teneriffa. Wahrscheinlich lag damals am Gipfel des Pico del Teide ganzjährig Schnee. Auch 1000 Jahre danach, nach Wiederentdeckung der Inseln durch europäische Seefahrer, scheint er im Sommer schneebedeckt gewesen zu sein. Jedenfalls wird dies im ältesten erhaltenen Bericht über eine Expedition aus dem Jahre 1341 berichtet. Die mutigen Seeleute verließ der Mut angesichts dieses Phänomens, hinter dem sie Zauberei vermuteten, weshalb sie die Insel nicht zu betreten wagten. Sie hätten sonst von den Ureinwohnern erfahren können, dass diese ihre Heimatinsel „Chinet“ oder „Zinet“ nannten. Die Bezeichnung „Tenerife“ geht auf die Ureinwohner der Nachbarinsel La Palma zurück. In deren Sprache bedeutete „tener ife“ „weißer Berg“, womit wir wieder beim ewigen Schnee wären. Vermutlich sah der Teide vor seinem letzten Ausbruch vor 1200 Jahren auch dann sehr hell aus, wenn der Schnee im Sommer einmal vollständig abgetaut gewesen sein sollte. Sein Kegelstumpf war nämlich mit heller, fast weißer Lava bedeckt. Wir können einige Restflächen davon noch zwischen den schwarzen Lavaströmen erkennen, die beim letzten Ausbruch hinabgeflossen sind.
Am Morgen des zweiten Weihnachtstages lockerten sich die Wolken über dem Orotavatal kurz auf und ließen einen frisch verschneiten Pico del Teide erkennen. Himmelsblau in den Wolkenlücken wies auf sonnigeres Wetter im Nationalpark hin. Also brachen wir auf. Bevor wir El Portillo erreicht hatten, verdichteten sich die Wolken. Gelegentlich nieselte es leicht. Wir beschlossen, weiter nach Süden zu fahren, wo die Wolken weniger dunkel erschienen. Vor dem Teide hingegen, dessen Neuschnee wir gerne gesehen hätten, lag eine dicke Wolkenbank. Bei Montaña Mostaza wurde es heller, als wir die Blocklava der Montaña Rajada umkurvten, sahen wir blauen Himmel. In der Gegend um Boca de Tauce in der Ucanca-Ebene konnten wir im Sonnenschein laufen.
Obwohl es schon auf 11:00 Uhr zuging, stand die Morgensonne noch so niedrig, dass in der klaren Luft Licht und Schatten die Strukturen der Winterlandschaft und ihre vielfältigen Farben lebhaft hervortreten ließen und die Tiefe der Räume betonten. Solche Lichtverhältnisse, in denen die Zahl attraktiver Fotomotive – von den Details in der Nähe bis zum nach wenigen Schritten schon wieder veränderten Panorama – unerschöpflich erscheint, bekommt man hier im Sommer nur bei Sonnenaufgang und auch dann nur für wenige Minuten. Jetzt im Winter bleibt uns dafür Zeit, bis die Sonne gegen 13:00 Uhr ihren Höchststand erreicht hat. Die schönen Augenblicke verweilen tatsächlich etwas, bevor sie mit der sich gemächlich verändernden Sonnenposition vergehen.

© Michael von Levetzow
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Wir hatten den Wanderweg 40 gewählt. Er beginnt oder endet bei dem kleinen Parkplatz und Aussichtspunkt von Boca de Tauce. Wer hier beginnt, hat während des gesamten Weges das beeindruckende Panorama vor sich: links die steilen Flanken von Pico Viejo und Pico del Teide, voraus in abnehmender Entfernung die Roques de García mit den grünlichen Flecken der Azulejos und rechts die bizarren, bis zu 500 m hohen Steilwände des Cañadas-Randes. In umgekehrter Richtung findet der Blick weniger und verliert sich in der Ferne. Das ist besser für den Rückweg, wenn sich die Eindrücke setzen, wenn man sich in der Gruppe unterhält und es nicht mehr so darauf ankommt, den Moment festzuhalten, oder wenn man einfach seinen Gedanken Lauf lässt.
Bis auf seinen ersten Abschnitt, der jedem ohne geeignetes Schuhwerk nachdrücklich zeigt, dass diese Landschaft abseits der Straßen keine Fußgängerzone ist, ist der markierte Pfad sehr angenehm zu gehen, angenehm für Gelegenheitswanderer und Familien mit Kindern. Bis zum Erreichen des Parkplatzes beim Zapato de la Reina ist er abwechslungsreich genug, um bei den Jüngs-ten keine Langeweile aufkommen zu lassen. Wann man umkehrt, ist unwesentlich. Dieser Weg hat kein wirkliches Ziel. Man kommt immer an. Wer mag, erreicht schließlich den Weg 26, der den Mirador de Ucanca mit dem Rundweg um die Roques de García verbindet, über den man zum Parador-Hotel und zur Bushaltestelle gelangt. Wer dort vor 16:00 Uhr eintrifft, kann sich vom Linienbus zum Ausgangspunkt zurückbringen lassen. Ein weiterer Grund, den Weg in dieser Richtung zu wandern.

© Michael von Levetzow
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Einen Nachteil hat der 40er. Er verläuft immer in der Nähe der Straße. In tourismusarmen Zeiten ist das nur selten eine Beeinträchtigung, aber normalerweise sollte man hier unterwegs sein, bevor die Besucherwellen den Nationalpark fluten. Das bessere Fotografier-Licht wäre ein weiteres Argument.
Als wir starteten, umlagerten dichte Wolken die Gipfel der beiden großen Vulkane. Unter den Wolken war auf der Südflanke des Pico Viejo ein großes Schneefeld zu sehen. Die Schneegrenze lag dort bei 2800 m und zog sich als schmales Band direkt unter den Wolken auch um den Teide. Nach einer halben Stunde, als das Schneefeld schon aus unserem Blickfeld entschwunden war, trafen wir auf die Mauern ehemaliger Hirtenbehausungen aus der Zeit, als hier noch regelmäßig Ziegen weideten. Bis dahin hatten sich auch die Wolken vor den Gipfeln weitgehend verzogen. Vor allem der Teide zeichnete sich so hellweiß, wie nur Neuschnee sein kann, vor dem blauen Himmel ab. Eine Stunde später, auf dem Rückweg, hätte ich gerne auch ein Foto mit dem auffälligen Schneefeld am Gipfel des Pico Viejo gemacht, aber die Sonne hatte es in der kurzen Zeit weggeschmolzen. Für ewigen Schnee ist es längst zu warm am Teide. Anders als in meiner Jugend, als er noch wochenlang verschneit und in seiner weißen Pracht geradezu ein Wahrzeichen der Insel war, reicht es heute nur noch für einige Tage – und auch nur auf seiner schattigen Nordflanke. Zwei Tage später war die Südseite längst schneefrei.
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Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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