»Bergfrühling im Januar«
Teneriffa wird zur grünen Insel. Der völlig verregnete November hat vermutlich manche Urlaubsträume von Sonne und mildem Klima weitgehend ertränkt. In der Dezembersonne erhielten jedoch weite Flächen der Insel ein grünes Kleid. Wer jetzt aufmerksam unterwegs ist und wandert, wo der Frühling gerade einzieht, wird reichlich belohnt.
Meine Gäste, selbstständige, von ihrer jüngsten Arbeit einigermaßen gestresste Unternehmer, die ein paar Tage ausspannen und wandern möchten, hätten heute gerne eine besondere Neujahrs-Tour. Kurz soll sie sein … und leicht, aber mit eindrucksvoller Landschaft und möglichst einsam. Der Weg von Los Carrizales zur Finca de Abache scheint mir für sie das Richtige.
Als wir dort das Auto abstellen, unterbricht nicht die kleinste Passatwolke das strahlende Blau des Winterhimmels über dem Tenogebirge. Ich erläutere ein bisschen die Landschaft, die sich vor uns ausbreitet: Tief unten die Barrancos de Los Carrizales und de Abache, links über uns die Montaña de la Gala und gegenüber gut sichtbar der Verlauf des Weges, den wir nehmen werden. Meine beiden Gäste drängt es vorwärts auf dem alten Bauernweg, den man nicht verfehlen kann. … Stressabbau im Grünen. …
Mir bleibt reichlich Zeit, die Umgebung, durch die wir gehen, wahrzunehmen. Wesentlich grüner als im Sommer ist sie. Die Tabaibas tragen frische Blätter. Zusammen mit den zahlreichen Cardones, den Agaven und Opuntien sind sie ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir uns hier im Sukkulentenbusch bewegen. Pflanzen, die hier leben, müssen mit der Niederschlagsarmut des Halbwüstenklimas gut zurechtkommen. In ihren Stämmen oder verdickten Blättern speichern sie Wasser und überstehen so die langen, für viele andere Pflanzen tödlichen Trockenperioden. Pflanzen ohne Wasserspeicher erlebt man hier selten; denn sie verdorren sehr schnell unter der sengenden Sonne und im warmen Föhnwind, der auf der Südseite des Tenogebirges fast täglich das Land austrocknet. Bei ihnen überdauern nur die Samen oder unterirdische Speicherorgane, während wir im größten Teil des Jahres nur ihre spärlichen, von weidenden Ziegen übersehenen Reste entdecken können.
Heute, in den Tagen zwischen Neujahr und Reyes, ist die Ziegenweide reichlich gedeckt und der Boden dicht mit saftigen Kräutern bedeckt, auf denen ab und zu bunte Blütentupfen leuchten. Während ich Diques, diese auffälligen natürlichen Mauern in der Felslandschaft, und die Entstehung von Basaltsäulen erkläre und später noch über die Lebensbedingungen der früheren hiesigen Siedler berichte, registriere ich immer mehr Blumen, die ich an diesem Ort normalerweise nicht finden konnte. Mit sattgrünen Blättern sind ganze Polster von Reichardia tingitana gewachsen. Ein leuchtendgelber Strahlenkranz aus Zungenblüten umgibt bei diesen Korbblütlern die bräunlicheren Röhrenblüten in der Blütenmitte. „Cerraja de Viña“ nennen sie die Canarios, wobei „de Viña“ ein wichtiger Namenszusatz ist; denn „Cerraja“ heißen auch die an riesige Löwenzahnpflanzen erinnernden Gänsedisteln. Bei dieser Pflanze übersommern nur die Samen. Wesentlich unauffälliger stehen daneben die doldenähnlichen Blütenstände des weißlich-rosafarbenen Rosen-Lauchs, der zu den Zwiebelgewächsen gehört. Damit ist seine Überlebensstrategie auch schon angedeutet. Hier vergehen die oberirdischen Teile vollkommen, während die Zwiebeln und wahrscheinlich auch ein Teil der Samen überdauern. An ihren typischen Blüten sind die jetzt blühenden Fenchelartigen Margeriten leicht erkennbar. Wenn sie in Deutschland als Strauchmargeriten im Supermarkt angeboten werden, ahnt vermutlich kaum jemand, dass sie ursprünglich hier aus dem Südwesten Teneriffas stammen; denn nur hier ist ihr weltweit einziges natürliches Vorkommen. Bei diesen Halbsträuchern vertrocknet über das Jahr nur ein Teil der Zweige. Die anderen schlagen später wieder aus. Ihre in viele dünne Fäden gefiederten Blätter sind ebenfalls eine Anpassung an den Standort. Sie bieten den Sonnenstrahlen wenig Angriffsfläche und vertrocknen deshalb nicht so leicht.
Als wir schließlich die Hochfläche mit den längst aufgelassenen Terrassenfeldern und dem verfallenen Bauernhaus erreichen, gesellen sich noch die zarten Blüten des Kanaren-Scheinkrokus und die kräftigen Blütenstände des Kleinfrüchtigen Affodills dazu und zeigen, dass hier der Frühling bereits angekommen ist. Der Rotschäftige Blaustern neben der Ruine kommt als weiteres Liliengewächs hinzu. Inmitten dieser Blütenvielfalt und unter der wärmenden Sonne erinnert nur noch der leichte und etwas kühle Wind daran, dass wir nicht im Mai auf einer alpinen Bergwiese, sondern am Jahreswechsel auf Teneriffa unterwegs sind. „Ich habe noch nie eine solche Pflanzenvielfalt erlebt“, erklärt einer meiner Gäste und sammelt Nahaufnahmen von ihnen. Ein Novum für diesen passionierten Hobbyfotografen.
Um die Tour noch etwas abzurunden, lasse ich meine Gäste den kleinen Felskopf von Abache ersteigen und in den Barranco de Juan Lopez blicken. Jäh stürzen hier die Wände mehr als 500 m fast senkrecht ab. Noch weiter unten erscheint ein Stück des Meeresufers – eine der gewaltigsten Aussichten im Teno.
Auf dem Rückweg erscheinen die Wände des Kessels von Los Carrizales noch steiler. Allein wegen dieser Ausblicke lohnt sich dieser Weg immer – auch ohne Frühlingsblumen. Kurz vor dem Auto entdecke ich die ersten Mandelblüten. Hier ist wirklich schon Frühling, während in Santiago del Teide, wo demnächst wieder zwischen den Mandelblüten gewandert werden wird, die Bäume noch in tiefster Winterruhe stehen. Der Unterschied zwischen Frühling und Winter lässt sich an diesem Tag messen: Es sind 250 Höhenmeter.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top
mico@tenerife-on-top.de
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