Wandern und Entdecken: Die Jungfrau wandert


Die Ermita von La Enramada

Mit Heiligen ist das so eine Sache. Gemeinhin sind sie vielbeschäftigt – als Helfer, Fürsprecher, Schutzpatrone und gelegentlich auch noch mehr. Das hängt vom Gläubigen und seinen Anliegen und Nöten ab. Üblicherweise residieren sie in Kirchen oder Kapellen, und wendet sich ein Gläubiger in seiner Not oder Dankbarkeit an sie, tut er meistens gut daran, sich dorthin zu begeben. Er wird damit zum Pilger auf einer Wallfahrt. Ganze Orte leben für und von solchen Pilgerschaften. Wesentlich seltener machen sich Heilige selbst auf den Weg, um den Menschen ihren Segen zu spenden. Beiderlei Prozessionen und Wallfahrten gibt es in den Traditionen Teneriffas. Die Schutzheilige von Adeje, die Virgen de la Encarnación, macht da keine Ausnahme. Und doch ist da ein besonderer Unterschied. Sie besucht nämlich nicht vorzugsweise die Menschen in ihrem Umland – die dürfen und sollen sie auf ihrem Weg begleiten und feiern – sie besucht ihr altes Zuhause und wandert dabei über den Camino de la Virgen von der Úrsula-Kirche von Adeje, ihrer heutigen Wohnstatt, zum Strand von La Enramada. Durch die Südautobahn wurde der ortsnahe Abschnitt der Pilgerroute weitgehend zerstört; die Prozession beginnt heutzutage bei El Portón nahe der Autobahnausfahrt 79. Die kurze Wanderung durch das karge Wüstengebiet ist ganzjährig machbar und im Frühjahr besonders zu empfehlen. Dann ist die Wüste grün. 

Seit gut fünfhundert Jahren schon verehrt man in der Gegend von Adeje die Virgen de la Encarnación, die Jungfrau von der unbefleckten Empfängnis. Sie wurde dort zur Schutzpatronin des Ortes, zusammen mit der Heiligen Úrsula. Nach letzterer ist die alte und sehr sehenswerte Pfarrkirche von Adeje benannt, eine überwiegend schlichte, zweischiffige Renaissance-Kirche mit einigen wertvollen Heiligenfiguren und wunderbaren Deckentäfelungen im kanarischen Múdejar-Stil in ihrem Inneren sowie einigen alten Graffiti auf ihren Fassaden. Als Patronin befreite die Virgen die Stadt von einer gefährlichen Heuschreckenplage. Bevor in Afrika die alle paar Jahre regelmäßig auftretenden Heuschre­ckenplagen mit DDT und anderen Insektengiften bekämpft wurden, gelangten die gefräßigen Wanderheuschrecken bei Calima noch bis zum Anfang der 1970er-Jahre immer wieder auf die Inseln – und auch nach Teneriffa. Die dagegen in der Neuzeit ausgebrachten Gifte bereiten uns heute noch in den Nahrungsketten Probleme. Die Virgen schaffte Gleiches vor mehr als dreihundert Jahren auch ohne Gift und damit ganz umweltfreundlich. Aus Dankbarkeit versprachen die Anwohner der Heiligen eine jährliche Bittprozession in die Umgebung. Praktischerweise verbanden sie dieses Ereignis mit einem anderen, älteren Zusammenhang.

Ursprünglich residierte die Virgen de la Encarnación nämlich nicht in der mittleren Nische des Hauptaltars der Úrsula-Kirche von Adeje, sondern in der wesentlich bescheideneren Kapelle von La Enramada nahe der gleichnamigen Playa. Diese war ihr zu Ehren schon am Beginn des 16. Jahrhunderts kurz nach der Eroberung der Insel errichtet worden. Die Statue selbst wurde der Überlieferung nach dort an der Küste gefunden. Wahrscheinlich hatten Missionare sie zurückgelassen; denn vor der Eroberung Teneriffas wurde der Süden der Insel schon stark missioniert. Seeräuber waren damals eine weitere häufige Plage. Ihre Attacken beschränkten sich meistens auf die Plünderung der Häuser und Dörfchen nahe der Küste. Städtchen wie Adeje, die in der Regel gut 300 m über dem Meer und damit in sicherer Entfernung angelegt wurden, blieben davon meistens verschont. Konnten die Seeräuber Gefangene machen, wurden diese als Sklaven verkauft. Um die Virgen de la Encarnación vor Seeräubern zu schützen, ließ der damalige Herr von Adeje, Pedro de Ponte y Vergara die Heiligenstatue in die Úrsula-Kirche bringen. Das wiederum missfiel der Landbevölkerung; denn sehr bald schon nach ihrer Auffindung hatten die Bauern „ihre“ Virgen regelmäßig verehrt. So beschlossen sie, das Heiligenbild seine alte Heimstatt, die Kapelle von La Enramada, jährlich für einen Tag besuchen zu lassen. Damit wurde der soziale Frieden in der Region bewahrt und die bis heute andauernde Tradition begründet. Denn wehren konnten sich die abhängigen Landleute nicht gegen den mächtigen Landbesitzer, auf den auch der Bau der Casa Fuerte von Adeje zurückgeht. Die festungsähnliche Burg brannte Anfang des 20. Jahrhunderts leider ab.

Etwa 100 Jahre nach Pedro de Ponte wurde dessen Nachkomme Juan Bautista de Ponte in den Grafenstand erhoben und erhielt außerdem die Schutzherrschaft über die Virgen de Candelaria, also über die Schutzheilige des gesamten Archipels, die im gleichnamigen Ort Candelaria residierte. Deren erstes, in der späten Gotik oder frühen Renaissance entstandenes Standbild gelangte wahrscheinlich genauso wie die Virgen de la Encarnación schon geraume Zeit vor der Eroberung Teneriffas durch Missionare in die Gegend des heutigen Güímar. Ihre Auffindung ist Gegenstand der bekannten Legende, die etwa 100 Jahre später aufgeschrieben wurde. Die originalen Skulpturen der beiden Madonnen sind längst verloren gegangen und wurden durch neuere Standbilder ersetzt. Von der ursprünglichen Candelaria wissen wir aber wenigstens sehr genau, wie sie aussah; denn Juan Bautista de Ponte ließ eine originalgetreue Kopie anfertigen, die in einem Renaissance-Altar in der Seitenkapelle der Úrsula-Kirche von Adeje aufbewahrt wird und dort besichtigt werden kann. Und schon lange halten sich Gerüchte, die Candelaria von Adeje sei das eigentliche Original. Es heißt, die Familie de Ponte habe die in ihrem Auftrag angefertigte Kopie statt des Originals in den Ort Candelaria zurückgegeben, und diese Kopie sei schließlich in dem Tropensturm von 1826 verloren gegangen. Möglich wäre das schon; denn die Datierung des Holzes, aus dem die Candelaria von Adeje gemacht wurde, weist auf eine Herstellung im 15. Jahrhundert hin. Wie jedoch das Original der Jungfrau de la Encarnación aussah, die einmal jährlich nach La Enramada in ihre alte Kapelle wandert, wissen wir nicht. Aber dem Pilgern tut das keinen Abbruch.

Michael von Levetzow 

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