Wandern und Entdecken: Zum guten Tropfen


Manche Blütenwanderungen haben auf Teneriffa Tradition. Mit dem neuen Jahr beginnt – zunächst sehr zaghaft – die Mandelblüte. Mandeln spielen hier in der traditionellen Ernährung, vor allem bei zahlreichen Süßspeisen, eine herausragende Rolle – also gibt es in einigen Gegenden zahlreiche Mandelbäume, vor allem bei Santiago del Teide. Im Frühling sind die dortigen Mandelhaine das Ziel zahlreicher Besucher. Es gibt auch geführte Wanderungen. Während die Mandelblüte vergeht, bereitet sich das hiesige Hochgebirge noch auf eine wesentlich größere Blütenpracht vor. Anfangs nur hier und da, beginnen im Nationalpark und den angrenzenden Gebieten vereinzelt Sträucher ihre Blüten zu entfalten. Gelbe, weiße, blaue und gelegentlich rote oder violette Farbtupfer lockern dann das spätwinterliche, von zahlreichen Erdfarben bestimmte Bild auf. Ab Mitte Mai oder auch etwas später leuchtet die eigentlich herbe und karge Landschaft intensiv bunt und lockt jährlich große Besucherströme an. Der Sommer hat unser Hochgebirge erreicht. Er dauert hier oben nicht sehr lang. Den Pflanzen bleibt nicht viel Zeit, zu blühen und Samen für die nächste Generation zu entwickeln. Und auch die zahlreichen im Park lebenden Insektenarten müssen in dieser kurzen Zeitspanne von wenigen Monaten unter einigermaßen extremen Bedingungen ihre Brut für das nächste Überwintern fit machen. Das geht nur, weil sich hier im Laufe der Entwicklungsgeschichte Pflanzen und Tiere gemeinsam verändert und aneinander angepasst haben. 

Im Hochgebirge leuchten Blumen besonders intensiv. Das ist auf Teneriffa nicht anders als auf den Almwiesen der Alpen oder anderer kontinentaler Hochgebirge. Sehr anders sind aber die Pflanzen in Teneriffas Hochlagen. Es sind nicht nur andere Arten als auf den Kontinenten, ihr Erscheinungsbild ist ebenfalls deutlich anders. Hier herrschen holzige, strauchähnliche Pflanzen mit oftmals riesigen Blütenmengen pro Pflanze vor, und Graslandschaften sucht man vergebens; dort hingegen finden wir überwiegend unverholzte Kräuter mit einer überschaubaren Blütenzahl auf üppigen Wiesen. Das Ergebnis sind Unmengen kleiner Farbtupfer im alpinen Landschaftsbild, während in den Cañadas del Teide große Farbkleckse das Bild beherrschen. Dahinter stecken unterschiedliche Überlebensstrategien.

Betrachten wir aus der Distanz die Wuchsform unserer hiesigen Blütensträucher, so entdecken wir leicht ortstypische Ähnlichkeiten zwischen Teideginster (Retama), Teiderauke (Hierba pajonera), Federkopf (Rosalillo del Monte), Teidemargarite (Magarza del Teide) und anderen. Jeder Strauch bildet eine auf dem Erdboden liegende Halbkugel. Bis zur nächsten Halbkugel mag der Abstand nur wenige Zentimeter oder aber auch einige Meter betragen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Nachbar zur selben oder einer anderen Art gehört. Während der Blütezeit ist die Oberfläche der Halbkugeln mit einer dünnen Schicht frischer Blätter bedeckt. Wenn die Wasservorräte im Boden gering werden, werden die Blätter abgeworfen. Die anschließende Trockenphase und den langen Winter überstehen holzige Sträucher besser als krautige Blumen. Die Halbkugelform selbst sorgt dafür, dass der austrocknende Wind über die Sträucher hinwegweht und nicht das Innere der Halbkugeln erreicht. Dort bleibt es während der Vegetationsphase kühler und etwas feuchter als außerhalb. So kann man auf der Höhe der Sahara die trockene Jahreszeit besser überstehen.

Auf der Oberfläche der Sträucher oder sogar noch deutlich darüber auf langen dünnen Stengeln prangen die Blüten. Bei der gelb blühenden Teiderauke, deren Blüten an den Raps auf europäischen Feldern erinnern, kommen bei einer einzigen gut entwickelten Pflanze leicht mehr als 100 Blüten zusammen. Sie duften intensiv nach Honig. Farbe und Duft locken Insekten an: Fliegen, Käfer, Schmetterlinge, und natürlich auch Bienen – Wildbienen, die niemals Staaten bilden. Und genauso macht es der Teideginster mit seinen weißen und der Teide-Natternkopf mit seinen riesigen vieltausendblütigen roten Blütenkerzen. Sie alle signalisieren: „Hier gibt es einen guten Tropfen“. Sie produzieren reichlich Nektar. Würde jede Blüte bestäubt und entwickelte jede von ihnen einen oder mehrere fruchtbare Samen, wäre es schon für ihre nächste Generation zu eng im Gebiet. Ihre Nachkommen würden sich gegenseitig an Wachstum und Gedeihen hindern – Konkurrenz zwischen den Arten, aber auch innerhalb der gleichen Art. Auf Almwiesen mit weniger Blüten pro Pflanze besteht dieses Risiko nicht.

Warum tritt auf Teneriffa diese Übervermehrung nicht ein? Wie regulieren die hiesigen Pflanzen ihre Vermehrung? Hier kommen die bestäubenden Wild­insekten wieder ins Spiel. Sie suchen nur dann eine Blume auf, wenn sie hungrig sind. Deren Nektar ist für sie wie bestes Flugbenzin. Nach einem kurzen Tankstopp geht es weiter. Beim nächsten Hunger kann eine andere Pflanzenart den Treibstoff liefern, vielleicht auch die gleiche. Aber bestimmt trinken sie beim zweiten Tanken nicht an derselben Pflanze wie beim ersten Mal. Im Ergebnis werden nicht alle Blüten eines Strauchs bestäubt. Es gibt nur so viele Samen, wie benötigt werden, um das Überleben der Art zu sichern. Aber die überzähligen, am Ende unbestäubten Blüten haben geholfen, das Insekt in der weiten Landschaft zu diesem Futterplatz zu locken. Deswegen sind die Blütenstände hier so üppig. Es geht nicht um Samenproduktion um jeden Preis, sondern darum, die wenigen natürlichen Bestäuber anzulocken. Mehr ist nicht nötig. Seit Jahrtausenden funktioniert das bestens. Unsere Hochgebirgspflanzen und ihre natürlichen Besucher sind ein gut eingespieltes Team.

Michael von Levetzow 

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