» Ganz schön krass «


Seguro del sol – mit Sicherheit Sonne. Der Slogan aus den Sechzigerjahren bringt unverändert Reisende aus ganz Europa auf die Kanarischen Inseln. Ewiger Frühling sei hier und das Klima das beste der Welt, heißt es. Etwas komplexer ist die Situation schon, schließlich gibt es auf Teneriffa vom Meer bis zum Teidegipfel insgesamt sechs verschiedene Klimazonen. Wer mit dem Bus zum Teide hinauffährt und dann die Seilbahn bis knapp unter den Gipfel nimmt, braucht für deren Durchquerung keine zwei Stunden. Für die Entsprechungen dieser Klimazonen auf dem Weg von Nordafrika bis zum Nordkap bräuchten wir wesentlich mehr Zeit. Den ewigen Frühling jedoch finden wir genau genommen nur im Orotavatal, wo der moderne Kanaren-Tourismus und eben auch dieser Slogan ihren Ursprung haben. Ansonsten ist auf allen Inseln eher das trocken-heiße subtropische Klima in seinen verschiedenen jahreszeitlichen Ausprä­gungen die Regel. Und das bedeutet in der Tat ganzjährig viel Sonne und seltenen Regen. Wassermangel, Sonnenstrahlung und Hitze sind eine lebensbedrohliche Kombination. Die Lebewesen unserer Inseln müssen damit klarkommen.

Während ich dies schreibe, ist der beliebte Barranco del Infierno bei Adeje wieder einmal aus Sicherheitsgründen geschlossen. Vor anderthalb Jahren hatte ich als Ausweichmöglichkeit den Barranco de Añavingo empfohlen. Er bietet alles, was man von einer leicht zu erwandernden Schlucht erwartet. Vor allem sein hinterer Teil besticht durch seine steilen, hohen und eng stehenden Wände. Zugleich wartet er – vor allem in der ersten Jahreshälfte – mit einer üppigen Vegetation auf. Damals hatte jedoch ein Felssturz zur Schließung des hinteren Teils geführt, sodass wir uns auf den vorderen Abschnitt beschränken mussten. Seitdem habe ich nichts mehr von gefährlichen Ereignissen dort gehört oder gelesen. Die Schlucht sollte wieder freigegeben sein. Ein erneuter Besuch war also verlockend.  Kein Sperrschild am Eingang – ein gutes Zeichen. Leider besteht die Sperrung weiter, aber das erfährt man erst später.

Jetzt im Herbst kann man nicht übersehen, dass wir auf der Südseite der Insel unterwegs sind. Selbst die Pflanzen des wärmeliebenden Trockenbuschs, von der Küste aus gerechnet die zweite Klimazone auf der Insel, wirkten überwiegend vertrocknet, obwohl noch hier und da einzelne saftige grüne Blätter zu bemerken waren. Wenn es demnächst wieder regnet, treiben Bäume und Sträucher rasch wieder frisches Laub, und die Schlucht wird so grün, wie ich es vom letzten Besuch in Erinnerung habe. Jetzt aber, jetzt befinden sich die Pflanzen in der Sommerruhe und erscheinen uns so, wie wir es in Deutschland aus der Winterzeit kennen. Als Reaktion auf ungünstiges Klima haben sie die Blätter abgeworfen oder sind ganz vertrocknet. Zwischen Kanarischem Knöterich und anderen Sträuchern werde ich immer wieder auf einige Aeoniensträucher aufmerksam. In ihren verdickten Stämmen speichern sie Wasser. An der Spitze jedes Stammes befindet sich eine kleine tellerähnliche Blattrosette. Eine merkwürdige Erscheinung, die ich in keinem Bestimmungsbuch finden kann. Dabei kommt sie hier geradezu häufig vor. Bei Aeonium ist das nichts Ungewöhnliches; denn bei 34 Arten, die nur auf den Kanaren leben und untereinander auch noch ab und zu Bastarde bilden, kann man schon mal über etwas Besonderes stolpern.

Hier ist das Besondere aber nicht die Entdeckung einer neuen Art (der heimliche Traum fast jedes Biologen), sondern der Einblick in die Strategie, mit der diese Art sich über den tro­ckenen und lebensbedrohlichen Sommer hilft. Selbstverständlich ist diese Pflanze in der Fachliteratur beschrieben, aber immer nur in ihrer saftstrotzenden und leuchtend gelb blühenden Frühlingsform. Aber anders als seine 33 Schwesterarten wirft Aeonium arboreum die meisten seiner Blätter ab, wenn es zu heiß und zu trocken wird. Aeonien sind Dickblattgewächse. Zu der Gruppe gehören zahlreiche andere Arten, auch der in Mitteleuropa als Dachbegrünung bekannte Mauerpfeffer (Sedum album). Die meisten von ihnen überstehen Trockenheit gut. Sie speichern in ihren fleischigen Blättern Wasser. Das ist ein gemeinsames Merkmal. Vom Mauerpfeffer und einigen anderen ist bekannt, dass ihre Wurzeln bei Trockenheit weitgehend absterben. Sie sind dann nutzlos und entbehrliche Verbraucher. Kurz nach einem Regen bildet die Pflanze neue, um mit ihnen die Wasservorräte aufzufüllen. Wahrscheinlich ist das bei einigen kanarischen Arten ähnlich. Zusätzlich zur Wasserspeicherung in den Blättern haben einige wenige Arten, darunter auch Aeonium urbicum, das auf vielen alten Ziegeldächern wächst, ihren Stamm als Wasserspeicher entdeckt. Unsere Pflanze, Aeonium arboreum, ist aber noch weiter gegangen und beschränkt sich am Ende ausschließlich auf den Stamm als Speicherort. Damit können sie noch trockenere und heißere Orte besiedeln als ihre Verwandten. Die Blätter könnten in der Sonne Schaden nehmen.

Seltsamerweise drehen sie ihre kleinen Rosetten gerne dem Licht zu und weisen auf eine weitere Besonderheit der Dickblattgewächse hin; denn im Licht betreiben Pflanzen zu ihrer Ernährung Photosynthese. Dazu benötigen sie Kohlendioxid aus der Luft und müssen dazu winzige Spalten in ihren Blättern öffnen. In der heißen Sonne würden sie durch diese Spalten aber sehr schnell viel Wasser verduns­ten. Das würde zwar die Pflanze angenehm kühlen und wäre somit vorteilhaft. Am Ende aber wäre die Pflanze vertrocknet. In der Hitze leben Pflanzen ständig zwischen Verhungern und Vertrocknen. Der Lösung dieses Problems nähern wir uns, wenn wir einmal in ein vor Sonnenaufgang frisch gepflücktes Aeonium-Blatt beißen und den Geschmack mit dem eines am Nachmittag gepflückten Blatts vergleichen. Morgens sind die Blätter saurer. Denn nur nachts öffnen diese Pflanzen ihre Spaltöffnungen, nehmen Kohlendioxid auf und bauen damit Äpfelsäure auf. Tagsüber, wenn die Spaltöffnungen fest geschlossen bleiben, gewinnen sie aus der Säure das dort gespeicherte Kohlendioxid für ihre Nahrungsproduktion.

Ganz schön krass, die Anpassungen der Crassulaceae. So heißen die Dickblattgewächse.

Michael von Levetzow
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