» Lebendiges Erbe «


Verglichen mit Europa und dem angrenzenden afrikanischen Kontinent sind die Kanarischen Inseln etwas Besonderes. Für Canarios gilt das sicherlich umgekehrt auch. Hier war und ist Vieles anders. Das Besondere bekommt seinen Wert erst, wenn man das Normale kennt, das was allenthalben die Regel ist, nur nicht hier. Für Europäer waren das kanarische Klima, Sonne und Meer schon seit Langem das Besondere und für die Inseln die Grundlage ihres touristischen Angebots. Natur, Kultur und Tradition gerieten dabei allzu leicht zur folkloristischen Ausschmückung und manches historische Gebäude fiel der neuen Entwicklung und der Spitzhacke zum Opfer. Inzwischen begreift man auf den Inseln, dass Sonne und Meer nicht alles sind, dass die Inseln eine Vielfalt an Landschaften, Lebewesen und Tradition bieten, die ihresgleichen sucht und die zugleich die eigene kanarische Identität stiftet. Das Patrimonio, das natürliche und kulturelle Erbe der Regionen, wird als Wert und als Aufgabe gesehen. Und nicht zuletzt auch als Chance, das touristische Angebot vielfältiger und individueller zu machen, womit zugleich gemeint ist, neben dem gewachsenen und unvermeidlich standardisierten Massentourismus neue, inselbezogenere, sanftere Formen des Tourismus auf den Weg zu bringen. Verschiedene Städte – La Laguna, La Orotava und Los Realejos – probieren Neues aus und machen vor, wie das gehen könnte. Zu Fuß gehen, einen Spaziergang oder eine Wanderung machen, um etwas zu erleben und zu entdecken, ist die Devise.

Vor wenigen Tagen wurde in Los Realejos die „Ruta de los Dragos“, der Weg zu den Drachenbäumen, durch die Verantwortlichen des Ayuntamiento aus der Taufe gehoben. Schon seit einiger Zeit bietet die Stadt Informationen und Hilfen zur Erkundung ihres Patrimonio an. Schließlich zählen die beiden Realejos zu den ältesten Stadtgründungen der Insel und können mit historischen Gebäuden und Hinterlassenschaften aufwarten, die zu entdecken sich durchaus lohnt. Einige sehenswerte Drachenbäume zählen zu den ältesten und schönsten der Insel. Ihnen ist dieser Weg gewidmet. Zwar empfiehlt  das Tourismusbüro, zwischendurch wegen einiger größerer Entfernungen mit dem eigenen Auto zu fahren, man kann sich aber auch einzelne Schwerpunktgebiete vornehmen, die gut zu Fuß zu bewältigen sind, und hat damit auch mehr Gelegenheit, gleich noch anderes vom Erbe der Stadt kennenzulernen.

Ein solcher Schwerpunkt ist das Gebiet um den alten Ortskern von Realejo Bajo. Hinter der historischen Casa de la Parra findet man fast immer einen Parkplatz. Von dort steigt man zum Friedhof Cementerio de San Francisco auf. Vor seinem Eingangsportal erhebt sich ein mächtiger Drago. Mindes­tens 200 Jahre muss er alt sein. Genau weiß man das nicht; denn Drachenbäume sehen zwar aus wie Bäume, sind aber keine. Sie bilden keine Jahresringe, an denen sich das Alter abzählen ließe. Aber alle 15 bis 20 Jahre bilden ihre Äste neue Verzweigungen, die man zählen kann. Der Rest ist Multiplikation. Als der Drago de San Francisco gepflanzt wurde, gab es hier noch keinen Friedhof, sondern ein Franziskanerkloster. Nur das Portal neben dem alten Riesen blieb davon erhalten.

Alle Dragos im Stadtgebiet wurden irgendwann angepflanzt. Wilde Drachenbäume gibt es nur noch selten auf der Insel, im Anaga-Gebirge zum Beispiel. Ihre erhabene Form machte und macht sie heute noch zu begehrten Zierpflanzen in Parks, Gärten und auf öffentlichen Plätzen. Gleich zwei, Los Gemelos (die Zwillinge), können wir auf der kleinen Plaza unterhalb der Iglesia de la Concepción bestaunen. Vom Friedhof bis dorthin ist es nicht weit. Sie sind jünger und entsprechend schlanker als unser erster Drago, aber durchaus stattlich. Bei ihnen befindet sich auch eine Informationstafel, die uns zu den interessanten Gebäuden der Umgebung weist.

Das zweite Schwerpunktgebiet beginnt im  Ortsteil San Vicente mit dem Drago de Siete Fuentes. „Siete Fuentes“ heißt zwar „sieben Quellen“, aber Quellen sucht man hier vergebens. Der Name verweist auf die Condes (Grafen) de Siete Fuentes, die hier ein Landgut bewirtschaften ließen. Gut und Bauernhaus sind längst aufgegeben und verfallen. Ein Hirte benutzt das Gebäude als Viehstall. Aber der Drago steht stolz da. Er soll der zweitälteste der Insel sein mit einem geschätzten Alter von 400 Jahren. Bevor man auf der TF-5 in den Tunnel von San Vicente hineinfährt, kann man ihn darüber auf dem Bergrü­cken sehen. Am besten parkt man auf der Carretera de San Vicente gegenüber dem Wasserspeicher (Deposito Puerto Franco) bei einem kleinen Drago. Vom Platz vor dem Wasserspeicher ist er  gut sichtbar. Trittsichere können über eine kurze steile Böschung zu ihm gelangen. Sein Stamm ist voller Knoten und Furchen, die Rinde fühlt sich glatt, beinahe ein bisschen seidig an. Rote Farbflecken zeigen, wo einmal sein Saft, das Drachenblut, ausgetreten ist. An der Luft färbt es sich bald rötlich. Früher nahm man Drachenblut als Heilmittel zur antiseptischen Wundbehandlung, bei Skorbut und bei Durchfällen. Es ist in Wasser unlöslich, kann aber in organischen Lösungsmitteln wie Alkohol gelöst werden und eignet sich daher gut als Lack. Stradivari soll es für seine Geigen benutzt haben und die alten Chinesen für ihre roten Lackmöbel. Die bezogen ihr Drachenblut allerdings aus Ostafrika, wo andere Drachenbaum­-

arten wachsen. An einigen Stellen zeigen runde Bohrgänge Insekten an, die seinen Stamm bewohnen, und in einigen Vertiefungen auf seiner Wetterseite wachsen Farne und kleine Kräuter. In seiner dichten Krone ist bestimmt Platz für noch mehr Gäste.  Dieser Baum ist ein kleines Ökosystem für sich.

Über den Mirador de San Pedro gelangt man zum Drago von Rambla de Castro, der dort im Palmenhain gepflanzt wurde. Auch zum Drago de la Rambla del Mar ist es von dort nicht mehr weit.  Man sieht bereits von San Pedro aus, wie seine hochgewachsene Krone die Bananenstauden seiner Umgebung um einiges überragt. Die Rambla de Castro mit ihrem durch die Stadt sorgfältig restaurierten Herrenhaus besticht unter den Küstenwanderungen durch ihren Pflanzenreichtum und die schönen Blicke über die Nordküste.

Michael von Levetzow
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