Von lebendigen Gemeinden träumen


Gedanken für mich ­– Augenblicke für Gott

Von George Bernard Shaw, diesem irisch-britischen Dramatiker und Politiker, sind uns viele bekannte Sprüche und Zitate überliefert. Zu den bekanntesten Äußerungen gehört wohl diese: „Du siehst Dinge, die es gibt, und fragst: Warum? – Ich träume von Dingen, die es nicht gibt, und sage: Warum nicht?“

Mit dieser Aussage ermuntert Shaw zu einer Lebenseinstellung, die von Zielen und Träumen ausgeht und dann erst fragt, was denn ihrer Verwirklichung schlussendlich im Wege steht.

Von einer Kirche, von einer neuen Kirche träumen und dann sagen: Warum nicht? – diese Lebenseinstellung erhoffe ich mir von vielen Christen heute, und meinen Traum von engagiertem Christsein und lebendiger Gemeinde habe ich in der Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus aus dem Markus-Evangelium entdeckt: Zuerst fällt mir da auf, dass Jesus die Stimme des blinden Bettlers hört – trotz der großen Menschenmenge und der vielen Leute, die den Rufer rundherum zum Schweigen bringen wollen. Er hört und bleibt stehen. Dabei stelle ich mir jetzt einzelne Christen und Gemeinden vor, die gerade hier Maß an Jesus nehmen und fragen: Warum denn nicht? Warum sollte es nicht immer mehr Christen geben, die sagen: Ich möchte hellhörig werden, möchte so etwas wie „Gehörbildung“ für mich selbst oder unsere Gemeinde betreiben. Ich möchte also besonders auf die Rufe derer hören, über die man sich ärgert, denen man im Allgemeinen zu schweigen befiehlt. Ich will versuchen, all denen zuzuhören, die keine Stimme haben und die dringend einen Ansprechpartner brauchen. Dann wären unsere Gemeinden so etwas wie „Horch-Posten“, die das Ohr dort haben, wo die oft stummen Schreie der Not ausgestoßen werden; Orte, an denen gehört und nicht nur geredet wird; Orte, an denen auch Zwischenrufe und Zwischentöne wahrgenommen werden.

Als Zweites entdecke ich, dass Jesus den Blinden in seine Nähe holen will und dass er anderen den Auftrag zukommen lässt, ihn zu rufen. Jesus selbst ist also der Einladende, aber er lässt die Einladung durch andere ausrichten. Was könnte das aber für uns heißen? Wie könnten wir da an Jesu Handeln Maß nehmen? Und so stelle ich mir einzelne Christen und Gemeinden vor, die fragen: Warum nicht? Warum könnte es nicht immer mehr Christen geben, die zu anderen sagen: „Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich! Lass dich von Jesus in einem guten Sinne provozieren, herausrufen! Entdecke deine persönliche Berufung, deine Chance, ihm näher zu kommen!“ Unsere Gemeinden wären dann so etwas wie „Zubringer-Dienste“; nicht um ihrer selbst willen da, sondern um Menschen in die Nähe Jesu zu bringen. Hier würde nicht gezwungen, sondern eingeladen; nicht ausgegrenzt, sondern integriert; hier gibt es keine Konkurrenz der verschiedenen Begabungen, sondern da gibt es nur Reichtum und Vielfalt, von denen alle profitieren können. 

Das erste Wort, das Jesus an den blinden Bartimäus richtet, ist eine Frage: „Was soll ich dir tun?“ Ja, er will wissen, sehr wohl wissen, was der andere von ihm erwartet. Auch wenn es in unseren Augen doch mehr als offensichtlich ist. Aber: Jesus fragt nach. Und ich frage mich: Warum sollte es nicht immer mehr Christen und Gemeinden geben, die andere genauso fragen: „Was soll ich dir tun? Was erwartest du von mir, von unserer Gemeinde, von unserer Kirche? Was fehlt dir denn zu einem erfüllten Leben?“ Unsere Gemeinden wären dann so etwas wie „Such-Trupps“; also Gemeinschaften, die nachfragen, was den Menschen zum Heilsein fehlt. Hier wären Menschen beieinander, die nicht stereotype Antworten präsentieren, sondern Erwartungen und Sehnsüchte der Menschen aufspüren; Leute, die nicht einfach Angebote überstülpen, sondern sehr wohl und sehr genau überlegen, was hier und jetzt wirklich „not-wendig“ und hilfreich ist.

„Geh! Dein Glaube hat dir geholfen.“ Mit dieser Aussage reagiert Jesus auf die Bitte des Bartimäus. Er stellt keinerlei Forderungen oder Ansprüche, sondern sagt einfach: „Das Entscheidende ist doch letztlich schon passiert. Deine grenzenlose Hoffnung hat dich heil gemacht.“ Und dann bestärkt er den Bettler in seinem Glauben. Wenn ich mir nun vorstelle, dass Christen und Gemeinden daran Maß nehmen, dann frage ich mich: Warum eigentlich nicht? Warum könnte es nicht immer mehr Christen geben, die andere in ihrem Glauben bestärken und sagen: „Dein Glaube hat dir geholfen; mit deinem Glauben bist du auf einem guten, bist du auf dem richtigen Weg.“ Dann wären unsere Gemeinden doch so etwas wie „Aufbau-Kurse“, also Weg-Gemeinschaften, in denen man sich gegenseitig aufbaut; in denen nicht nur gefordert, sondern in erster Linie und vor allem ermutigt wird; in denen man sich ermuntert, das Brot des Glaubens zu teilen, damit keiner zum „Eigenbrötler“ werden muss.

Wie sagte der körperlich sehr kleine, aber in seinem Christsein so großartige und wirklich große brasilianische Bischof und Befreiungstheologe Dom Helder Camara: „Wenn einer alleine träumt, dann ist es nur ein Traum. Aber wenn viele gemeinsam träumen, dann ist das der Beginn einer ganz neuen Wirklichkeit.“

Ihr

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und

Residentenseelsorger

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