Landschaft am Ende
Seit fast 160 Jahren zeigt der Faro de Anaga den Schiffen während der Nacht, wo sich unsere Insel befindet und warnt sie zugleich vor den gefährlichen Klippen an ihrer Nordostspitze. Der älteste Leuchtturm der Kanaren wurde auf einem Bergrücken in knapp 250 m Höhe über dem Meer errichtet, sein Leuchtfeuer befindet sich noch 12 m höher und ist aus fast 40 km Entfernung erkennbar. Kein aktiver Leuchtturm auf den Inseln steht höher und leuchtet weiter. Die Schiffskatastrophe von 1898 konnte er dennoch nicht verhindern; denn im Sandsturm einer Calima war sein Lichtstrahl nicht sichtbar. Der französische Dampfer „Flachat“, unterwegs nach Venezuela, lief nahe bei Taganana auf die Klippen vor der beliebten, aber nicht ungefährlichen Playa Anosma auf, brach auseinander und sank schließlich, wobei 77 Menschen ertranken, nur 24 konnten von zufällig vorbeifahrenden Schiffen in wagemutigen Aktionen aus der Brandung gerettet werden. Ein in der Hauptkirche Tagananas aufgestelltes Modell des Havaristen erinnert an die Katastrophe. Die Statue einer Virgen Inmaculada (Unbefleckten Empfängnis) sowie ein schön gearbeitetes Kreuz, der „Cristo del Naufragio“ (Christus des Schiffbruchs), welche die „Flachat“ nach Südamerika bringen sollte, wurden wenige Tage später an Land gespült und ebenfalls in der Kirche aufgestellt. Sie gelten in der Bevölkerung als wundertätig. Ansonsten hat der Faro immer das getan, wozu er errichtet wurde: Schiffbrüche verhindern.
Man kann den Leuchtturm an der Nordwestspitze Teneriffas entweder von San Andrés aus per Wassertaxi erreichen. Anfang September, bei der Jahreszeit entsprechend fast spiegelglattem Meer, wäre das eine sehr nette Unternehmung gewesen, um dann von Roque Bermejo am Turm vorbei zum gut 500 m höher gelegenen Chamorga aufzusteigen. Meistens ist das Wasser vor der Anaga-Halbinsel aber stärker bewegt, dann wird die Fahrt für Landratten zu einem besonderen Erlebnis – kein gefährliches Abenteuer; denn die Seeleute wissen, was sie tun und was ihre Boote können. Oder man bricht in Chamorga in umgekehrter Richtung zu einer Rundwanderung auf, die durch den Barranco de Roque Bermejo wieder zum Ausgangspunkt zurückführt.
Für diese Variante hatten meine Freunde und ich uns entschieden und trafen uns in Chamorga, um nach einigen Jahren des Wanderns in anderen Inselregionen diesen uns bekannten und schönen Weg gemeinsam zu genießen. In der Casa Alvaro war man schon mit der Vorbereitung unseres für den Nachmittag bestellten Essens beschäftigt, es sollte sehr gehaltvoll und lecker werden. Ein gutes Essen endet hier mit einem sehr heißen guten Kaffee, und eine gute Wanderung mit Freunden beginnt am besten mit einem solchen. Diese Verzögerung darf man sich gönnen.
Oberhalb des Ortes prangen das ganze Jahr über Lorbeerwälder in sattem Grün. Sie zeigen, dass dort oben regelmäßig Passatwolken gegen die Berge stoßen und einen Teil ihrer nassen Fracht abladen. Ganz anders unterhalb des Dorfes. Jetzt, im Spätsommer wirkt das Land weitgehend vertrocknet. Kein Wunder, die Niederschläge der vergangenen zwei Jahre waren zu gering. Nur die grünen Wedel der zahlreichen Palmen und die breiten Kronen der Drachenbäume, die hier noch weitgehend wild wachsen, zeigen die Stellen an, an denen im Untergrund Wasser die Hänge hinabsickert. Aber etwas verbrannter, als wir es von den früheren Besuchen in Erinnerung haben, wirkt es doch.
Nach wenigen Hundert Metern Weges wird aber unübersehbar und überdeutlich, dass sich hier etwas ganz anderes abgespielt hat und, wie wir bald feststellen müssen, weiterhin unverändert abspielt. Bis etwa zu unserer Brusthöhe zeigen fast alle Pflanzen massive Bissspuren, selbst die wegen ihrer harten Stacheln eigentlich von Pflanzenfressern gemiedenen Opuntien sind durch den Verbiss massiv beschädigt. Wir sehen die Folgen einer Entwicklung, die erst vor wenigen Jahren begann, als die Ziegenbesitzer der Region ihre Herden freiließen. Es heißt, mit dem Ende wichtiger Zuschüsse habe sich der Arbeitsaufwand, die Tiere zu hüten, zu melken und die überzähligen zum Schlachter zu bringen, nicht mehr gelohnt. Anfangs, so mag man sich vorstellen, suchten die Ziegen vor allem die Orte mit besonders wohlschmeckenden Pflanzen auf und vermehrten sich etwas. Als diese verbraucht waren, stiegen sie auf weniger schmackhafte um – und vermehrten sich weiter. Niemand fing sie ein und brachte sie gar zum Schlachter. Die verbissenen Opuntien zeigen unbezweifelbar, dass mittlerweile Nahrungsmangel bei den Ziegen bestimmend wurde. Noch vor wenigen Jahren gab es an diesen Pflanzen keine Bissschäden.
Verwilderte Ziegen werden sehr scheu, meiden die Menschen, selbst solche, von denen sie vorher betreut wurden. Die Entwicklung ist nicht leicht und wahrscheinlich nicht ohne drastische Eingriffe umkehrbar. Sie wird zunehmend zur ökologischen Katastrophe. Wissenschaftler und Naturschutzbehörden empfahlen der Inselregierung den kontrollierten Abschuss der Tiere. Denn auch wenn Ziegenhaltung eine mehr als zweieinhalbtausendjährige Tradition auf unseren Inseln hat, sie waren hier immer Haustiere unter der Aufsicht der Menschen. Wilde Ziegen gab es hier nie. So gibt es auch auf den Inseln keine biologischen Regulative, weder in Form großer Beutegreifer, die Ziegen überwältigen könnten, noch in Form wirksamer Schutzvorkehrungen, die die Pflanzen wie ihre Verwandten auf den Kontinenten im Laufe von Jahrmillionen hätten entwickeln können. Gegen den Abschuss empörten sich dennoch Teile der Bevölkerung so sehr, dass die Maßnahme zumindest stark reduziert wurde. Noch vermehren sich die Ziegen. Wie es aussieht, werden zunehmend Pflanzen und mit ihnen diese weltweit einmaligen Ökosysteme verschwinden. Die Ziegen werden nicht abgeschossen, sondern verhungern. Aber die Katastrophe wird sich nicht umkehren. Denn ausgestorbene Pflanzen lassen sich nicht wiederbeleben. Da schützt kein Leuchtturm.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top