Wandern und Entdecken: Blindschleichen gibt es hier nicht


Kanarenskink (Chalcides viridanus)

Für die meisten Tierarten war es gar nicht leicht, die Kanarischen Inseln zu erreichen. Aus der Tiefsee aufgetauchte Vulkaninseln wie die unsrigen sind zuerst vollkommen frei von Lebewesen, und ihr nacktes Gestein bleibt über lange Zeiten äußerst lebensfeindlich. Erst allmählich ändern sich die Bedingungen, und Lebewesen können sich ansiedeln – sofern sie geeignete Voraussetzungen mitbringen. Zufallstreffer sind solche Ereignisse allemal; denn um das bisschen Inselfläche dehnt sich der vergleichsweise unendliche Ozean aus. Knapp am Land vorbeizutreiben, besiegelt bereits den Misserfolg. Und dass die Meeresströmungen und die vorherrschenden Passatwinde aus nordöstlicher Richtung auf die Inseln treffen, verkleinert die Erfolgsaussichten zusätzlich. Schließlich wirken und transportieren sie parallel zur nahen afrikanischen Küste; wer sich von dort auf den Weg zu den Kanaren macht – absichtlich oder zufällig – hat bessere Aussichten, in die Weiten des Ozeans verdriftet zu werden, als eine unserer Inseln zu erreichen. Nur Vögel, Fledermäuse und einige Insekten, die aus eigener Kraft stark genug sind, um die Wirkung des Passatwindes auszugleichen, fallen nicht unter diese Regel. Entsprechend vielfältig begegnen sie uns auf den Inseln. Trotzdem fallen sie uns meistens weniger auf als die hier weit verbreiteten Reptilien, obwohl die es wesentlich schwerer hatten, hierher zu gelangen. Ohne menschliche Nachhilfe schafften das nur Eidechsen, Geckos, Skinke und Landschildkröten. Dazu mussten sie eine gut eintausend Kilometer lange Reise auf irgendeinem Treibgut, einem Baumstamm vielleicht, von der südspanischen Küste (ihrem ursprünglichen Herkunftsgebiet) zu den Inseln überstehen. Andere Reptiliengruppen, darunter auch Schlangen, trieben entweder vorbei oder hielten den weiten Weg nicht aus. Nicht alle, die es schafften, konnten hier auch auf Dauer überleben. Die Landschildkröten Teneriffas – denn nur hier wurden ihre Fossilien entdeckt – sind bereits seit 700 000 Jahren ausgestorben. 

Tagsüber begegnen wir vor allem zahlreichen Eidechsen als Vertretern der einheimischen Reptilien. Mit Ausnahme der Lorbeerwald-Region kommen sie fast überall mehr oder weniger häufig vor, vor allem in den von Menschen besiedelten Gegenden, aber auch im Hochgebirge oberhalb der Baumgrenze, wo die Tage im Sommer meistens schön warm und damit reptilienfreundlich sind. Im Gegensatz zu ihren kontinentalen Verwandten ernähren sie sich überwiegend vegetarisch, vielleicht eine Anpassung daran, dass sich Insekten und andere mögliche Beutetiere gerne tagsüber vor der Hitze verstecken und deswegen schwerer zu erbeuten sind. Nachts sind hier weitaus mehr Insekten unterwegs – und auch Geckos, die sich von den Kleintieren ernähren. Wir können sie mit etwas Glück bei der Jagd beobachten.

Aber Skinke??? Kaum jemand, einheimisch oder nicht, hat sie schon gesehen. Dabei sind sie hier gar nicht so selten. Tagaktiv wie Eidechsen, aber wesentlich scheuer, sind sie daher meistens schon verschwunden, bevor wir sie überhaupt entdecken konnten. Nur morgens, wenn die Sonne den Boden erwärmt und die Skinke selbst noch etwas träge von der Kühle der vergangenen Nacht ihr erstes und wichtiges Sonnenbad nehmen, können wir sie gut beobachten. Denn solange sie noch nicht wieder auf Betriebstemperatur gebracht worden sind, reagieren sie nicht oder sehr verzögert auf unsere Annäherung. Um diese Zeit sitzen die meisten Wanderer auf den Kanaren noch beim Frühstück.

Gelegentlich hielten meine Gäste sie auch für Blindschleichen. Das liegt daran, dass Glatt­echsen, zu deren Familie die Skinke gehören, sehr kleine glänzende Schuppen auf ihrem Rücken haben. Mit ihrem runden, walzenförmigen Körper erinnern sie tatsächlich im Aussehen an Blindschleichen. Aber Blindschleichen sind Eidechsen. Beide Reptilienfamilien sind miteinander etwa so nah verwandt wie wir Menschen mit der Grünen Meerkatze; sie haben wenig miteinander zu tun. Und die Natur hat im Laufe der Entwicklungsgeschichte manche Ähnlichkeiten mehrfach unabhängig voneinander hervorgebracht.

Von unseren Skinken ist wenig bekannt. Auf Teneriffa gibt es wenigstens drei genetisch voneinander differenzierbare Unterarten, die sich ähnlich wie unsere Eidechsen auch äußerlich geringfügig unterscheiden. Je eine von ihnen findet man im Anaga-Gebirge und im Teno-Gebirge. Die dritte besiedelt den Zentralteil der Insel und weist Verbindungen zu den beiden erstgenannten Gruppen auf. Wahrscheinlich überlebten die beiden ersten Gruppen die verheerenden explosiven Vulkanausbrüche, die den Zentralteil Teneriffas bis vor etwa 200.000 Jahren während rund einer Million Jahre immer wieder heimsuchten und dort wiederholt das Leben praktisch auslöschten, und besiedelten von diesen kleinen älteren Gebirgen aus das verwüstete Land erneut. Dabei entstand mindes­tens eine weitere neue Unterart.

Skinke sind Insektenfresser, obwohl sie auch Süßes mögen. Sie haben sich nicht auf pflanzliche Kost umgestellt. Ihre Beute finden sie unter und zwischen Steinen, wo sie sich auch vor uns verstecken. Die Schlupf­winkel haben sie mit den Eidechsen gemeinsam. Dank ihres walzenförmigen Rumpfes und der kurzen Beinchen können sie aber besser durch Engstellen schlüpfen und ihrer Beute nachstellen. Eidechsen besitzen wesentlich längere und kräftigere Beine, auf denen sie gut und schnell laufen können, nur eben nicht unter oder zwischen Steinen. Dagegen schieben sich Skinke mit ihren kleinen und schwächeren Beinen eher langsam vorwärts. Muss es schnell gehen, legen sie ihre Beinchen eng an den Körper und schlängeln blitzschnell, wie eine Blindschleiche. Deswegen sind sie meistens verschwunden, bevor wir sie entdecken.

Michael von Levetzow 

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